Madonna
Dann nickte er zaghaft. »Was willst du?«
So unverhofft kam diese Frage, dass Donatus unwillkürlich doch einen Schritt vorwärts machte. Sofort drängte Tobias sich noch dichter in die Ecke, seine Augen wurden weit, und ein panischer Laut entrang sich seiner Kehle.
Rasch sprang Donatus zurück. »Entschuldige! Ich bleibe schon stehen! Sieh!« Die Gedanken bildeten ein Knäuel in seinem Kopf. »Ich muss dich etwas fragen, darf ich das?«
Tobias nickte.
»Dieser Mann, der so pfeift …«
Tobias unterbrach ihn, indem er die grauenhafte Melodie ertönen ließ. Donatus musste sich beherrschen, um nicht auf dem Absatz kehrtzumachen und davonzulaufen. Plötzlich war es nicht Tobias, der vor ihm saß, sondern Kilian. »Genau«, bestätigte er. »Kannst du mir sagen, wer dieser Mann ist?«
Tobias hob das Kinn. Kurz glaubte Donatus, er würde es ihm tatsächlich sagen. Doch der Junge schüttelte nur den Kopf.
»Du weißt es aber, oder?«
Tobias setzte zu einem Nicken an, dann jedoch schüttelte er erneut den Kopf. Kurz. Heftig.
Donatus dachte an all die Nächte, die er in seinem Bett auf das Schwein gelauert hatte. »Er hat einen … Freund von mir auf dem Gewissen«, flüsterte er Tobias zu. Die Trauer um Kilian machte ihn heiser. »Hör zu«, sagte er, als Tobias noch immer nicht reagierte. Er legte so viel Eindringlichkeit in seine Stimme, wie er vermochte. »Du bist nicht der Erste, dem dieses Schwein das angetan hat. Aber wir können ihn aufhalten. Wir können dafür sorgen, dass er das nicht noch einem Jungen antut, Tobias!«
»Kilian war dein Freund, oder?« Auch die Stimme des Jungen klang rau.
Donatus musste sich zusammennehmen. »Das war er. Hör zu, Tobias. Auch Kilian war nicht der Erste. Vorher gab es schon andere. Es gab Gerede auf den Gängen von Heilig-Geist, Gerüchte.« Er musste sich mit der Schulter gegen den Türrahmen lehnen, um die Kraft zu finden, weiterzusprechen. »Ich habe damals nichts darauf gegeben. Ich dachte, dass man solch bösem Gerede um des eigenen Seelenheils …«
… vor allem um des eigenen Schlafes willen …
»… besser keine Beachtung schenkt. Das war ein Fehler!« Er musste sich sammeln, bevor er weiterreden konnte. »Wenn ich damals schon etwas getan hätte, dann wäre Kilian nichts passiert.«
»Hast du ihn gefragt?«
»Wer der Scheißkerl ist? Ja.«
»Er hat dir auch nichts gesagt.«
»Er ist weggelaufen. Er hatte Angst, Tobias, so wie du jetzt. Aber nur, wenn wir unsere Angst überwinden, können wir ihn aufhalten. Willst du, dass noch einem Jungen das angetan wird?«
»Kilian hat sich umgebracht. Das ist eine Todsünde.«
Donatus musste sich beherrschen, um nicht vor lauter Verzweiflung einen Fluch auszustoßen. »Ja«, murmelte er.
Für einen Moment war es still in der kleinen Kammer. In Tobias’ Gesicht begann ein einzelner Muskel zu zucken. Gebannt starrteDonatus darauf, er meinte zu sehen, wie der Junge mit sich rang. Gleich, da war er sich ganz sicher, würde er endlich den Namen des Schweins erfahren. Nachdem sie ihn aus dem Spital rausgeworfen hatten, all die Zeit, in der er in der Gosse gelegen hatte, war er sämtliche Männer des Spitals durchgegangen. Vom Spitalmeister bis hin zum niedrigsten Bediensteten – ein jedes Gesicht hatte er sich vorgestellt, hatte es sich wieder und wieder vor Augen gerufen und darin nach Zeichen für das Böse gesucht. Vergeblich. Aber jetzt, das sagte ihm eine Hoffnung, die sein Herz schier zerriss, jetzt würde er einen Namen zu hören bekommen. Und dann konnte er beenden, was er damals angefangen hatte.
»Ich muss …«, begann Tobias und verstummte. Der Muskel in seinem Gesicht hatte sich wieder beruhigt, dafür sah das Gesicht des Jungen nun aus wie eine Totenmaske. Starr und blass. »Er ist nicht schuld!« So leise flüsterte er die vier Worte, dass Donatus im ersten Augenblick glaubte, sich verhört zu haben.
»Was?«, wisperte er.
»Er ist nicht schuld daran, das hat er mir gesagt. Es ist allein meine Schuld!« Zitternd holte Tobias Luft. »Weil ich sündig bin!«
Donatus glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Sag das noch mal!, wollte er schreien, aber er brachte keinen Laut über die Lippen.
»Es ist dieser Ausdruck in meinen Augen, hat er gesagt, der ihn zwingt, das zu tun. Weil ich ihn mit meinen sündigen Blicken dazu auffordere … weil ich …«
Donatus’ Knie wurden weich. »Sag, dass das nicht wahr ist!«, hauchte er. »Sag, dass du das nicht wirklich glaubst?« Aber wenn er ehrlich mit sich
Weitere Kostenlose Bücher