Madonna
bleich werden, aber seltsamerweise empfand sie in diesem Moment keinerlei Angst. Er hatte versprochen, sie zu beschützen. Er würde es tun, sie musste ihm nur vertrauen. Spindler stellte seine Lampe auf einem Vorsprung ab. Mit entschlossener Miene trat er dem Inquisitor entgegen, der nun mitten im Gang stehen blieb und ihnen so den Fluchtweg abschnitt. »Diese Frau hier«, sagte Spindler fest, »sie ist keine Hexe!«
Spöttisch zog Kramer eine Augenbraue hoch. »Ach? Und da seid Ihr völlig sicher?«
Spindler nickte. »Natürlich. Wisst Ihr nicht, dass der Teufel sich vor reinen Jungfrauen fürchtet?«
»Reine Jungfrau?« Kramer schaute Katharina in die Augen, und sie konnte in seiner Miene zugleich unbändiges Vergnügen und grenzenlose Verachtung lesen. Er kam näher, bis er ganz dicht vor ihr stand. Dann umrundete er sie, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. »Ihr glaubt wirklich, dass diese hier …«, leise kicherte er, »… eine reine Jungfrau ist. Nun, mein Lieber, sie war es schon als kleines Kind nich …« Das Wort wurde ihm von den Lippen gerissen.
Er wankte. Katharina schrie auf.
Voller Entsetzen sah sie, wie er dastand, die Augen weit aufgerissen, den Mund ebenso. Mit einer taumelnden Bewegung drehte er sich um. In seinem Rücken steckte der Griff eines Dolches.
Katharina schlug sich die Hände vor den Mund.
Spindlers Arm sank nach unten. Tiefe Linien zeichneten sein Gesicht. Kramers Körper sank zu Boden. Mit einem dumpfen Geräusch schlug er auf, zuckte noch einmal. Dann lag er still.
Katharina wimmerte. »Was …« Sie konnte nicht weitersprechen. Sie sah zu, wie Dr. Spindler den Dolch aus dem Rücken des Inquisitors zog.
»Er ist der Mörder, der Nürnberg seit Wochen unsicher macht«, sagte er. In seinen Augen flackerte es düster. Zitternd hob er eine Hand, strich sich die Haare aus der Stirn. Für einen Moment schien er zusammenbrechen zu wollen. Er beugte sich vor, stützte sich auf den Knien ab. Dann fing er sich, richtete sich auf. Atmete zweimal tief durch. »Komm«, sagte er. »Wir sollten endlich aus diesem Loch raus!« Er griff nach dem Schlüssel, den er von Dengler erhalten hatte. Dann packte er Katharinas Hand, zog sie mit sich in die Brunnenstube.
Von hier aus führte eine Tür in die Lochwasserleitung.
Direkt neben dieser Tür steckte eine brennende Fackel in einem eisernen Halter, und die zuckende Flamme warf Spindlers Schatten ins Groteske verzerrt auf Wand und Decke. Wie bei Silberschläger in der Folterkammer. Schlagartig krampfte sich Katharinas Leib zusammen.
»Ich habe versprochen, dich zu schützen«, murmelte Spindler, und Katharina wurde sich bewusst, dass er sie plötzlich duzte.
In diesem Moment schallten Stimmen durch die Gänge des Verlieses.
Vor Schreck ließ Spindler fast den Schlüssel fallen. Gerade noch fing er ihn auf, rammte ihn in das schwere Schloss. Die Riegel und Bolzen in seinem Innersten kreischten, als er aufschloss, und mit einem weiteren Kreischen schwang die Tür auf. »Los!«, kommandierte er mit scharfer Stimme. »Rein da!«
Katharina zögerte. Das Bild des sterbenden Inquisitors brannte noch auf ihrer Netzhaut.
Die Stimmen näherten sich. Eine von ihnen erkannte Katharina. Sie gehörte dem Stadtrichter.
»Komm endlich!« Spindler langte nach Katharinas Arm, zerrte sie durch die Tür und stieß sie unsanft gegen die Wand dahinter. Rasch griff er nach der Fackel, dann rammte er die Tür mit dem Fuß ins Schloss. Von dieser Seite gab es kein Schlüsselloch, und so konnte er hinter ihnen nicht absperren.
»Lauf!« Mit einem Stoß zwischen die Schulterblätter trieb er Katharina vorwärts in einen Gang hinein, der leicht aufwärts führte und aus grob behauenem Felsen bestand. Ein Stück voraus, das wusste Katharina noch von früheren Aufenthalten hier unten, mündete er in die Lochwasserleitung. Die Luft war feucht und ein ganzes Stück kühler als die im Verließ. Es war jedoch nicht die klamme Feuchtigkeit, die Katharina Beklemmungen verursachte, sondern die Erinnerungen, die sie plötzlich überfielen. Ihr Bruder Matthias war hier unten eines gewaltsamen Todes gestorben.
Sie brauchte all ihre Willenskraft, um die Bilder zu verdrängen, die in ihr aufsteigen wollten, Bilder von Matthias’ Leiche, von schneeweißen Flügeln, von Blut, Blut, Blut …
Ihr Atem ging keuchend vor Anstrengung, nicht irre zu werden. Sie blieb stehen. »Warum habt Ihr ihn umgebracht?« Klang ihre Stimme wirklich so schrill?
Spindler schien über diese
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