Madonna
die Arme um seinen Hals legen konnte. Er war ein kräftiger junger Mann, und es war ihm ein Leichtes, sie hochzuheben. Während er sie die Stiege hinuntertrug, die im hinteren Teil des Pfründnerinnenhauses hinunter in den Speisesaalführte, forschte Mechthild in seinem Gesicht nach einem Anzeichen dafür, ob er ihr doch noch sagen würde, was geschehen war.
Sie fand keines.
Johannes’ Gesicht war verschlossen. Und sehr finster.
In diesem Moment begriff sie, dass ein Todesfall das Spital getroffen hatte.
Das Refektorium war bereits bis auf wenige Plätze besetzt. Als Johannes Mechthild auf einen Stuhl in einer Ecke setzte und sich dann selbst ganz in der Nähe gegen eine Wand lehnte, sah sie, dass nicht nur die Pfründerinnen und Pfründner zusammengerufen worden waren, sondern auch alle Scholaren sowie die Bediensteten des Spitals und die Priester. Letztere standen ein wenig abseits in einer Traube zusammen und unterhielten sich mit einem Mann, der die Kleidung der Predigermönche trug, der versammelten Menge jedoch den Rücken zukehrte, so dass Mechthild sein Gesicht nicht sehen konnte.
Vielleicht war dieser Mann der Grund dafür, dass sie alle zusammengerufen worden waren. Sollte nicht heute jemand kommen, der die zurzeit leere Priesterstelle einnehmen würde? Mechthilds Herz hob sich ein wenig. Vielleicht hatte es doch keinen Todesfall gegeben!
Doch in diesem Moment betrat am anderen Ende des Saales Dr. Spindler den Raum. In seinem Gefolge befand sich eine schmale, blasse Frau in einem dunkelbraunen Samtkleid und mit lose hochgesteckten rötlichen Haaren. Agnes Rotgerber, die Spitalmeisterin. Ihre Augen waren gerötet, das konnte Mechthild sogar über die Entfernung hinweg sehen. Schlagartig schwand alle Hoffnung darauf, ihre Versammlung könne mit dem fremden Mönch zusammenhängen. Doch ein Todesfall … Wer? Mechthild betrachtete Agnes’ bleiche Züge. Ein brennender Funke aus Angst entzündete sich in ihrem Magen.
Spindler blieb am Rand eines niedrigen Podestes stehen, das gewöhnlich dem Lektor, der bei den Mahlzeiten der Pfründner aus der Bibel vorzulesen hatte, als Bühne diente.
Eine von Mechthilds Sitznachbarinnen, eine fette Frau mit unzähligen geplatzten Äderchen auf Nase und Wangen, stieß Mechthild in die Seite. »So wie die Meisterin aussieht, ist was mit Rotgerber«, flüsterte sie.
Genau das war es, was Mechthild ebenfalls fürchtete.
Und sie hatte sich nicht getäuscht.
Mit wachsendem Entsetzen sah sie zu, wie Dr. Spindler die Hände hob und sich bedeutungsvoll räusperte. Das allgemeine Getuschel erstarb nach und nach.
»Ich muss leider eine traurige Ankündigung machen«, begann Spindler. Sein Blick schweifte über die Menge, blieb kurz an Mechthild hängen, huschte dann jedoch rasch weiter.
Mechthilds Magen ging in Flammen auf.
»Konrad Rotgerber, unser Spitalmeister, hat heute Morgen den Tod gefunden«, sagte Spindler.
Einen Moment lang war es sehr still im Saal, dann setzte erregtes Getuschel ein.
Mechthild schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, bemerkte sie, dass Spindler sie ansah.
Sag, dass es nicht wahr ist!, flehte sie lautlos.
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Es scheint«, setzte er erneut an und musste innehalten in seiner Rede, weil er sich kein Gehör verschaffen konnte. Er hob beide Arme über den Kopf. Seine Ärmel rutschten ihm über die Ellenbogen, enthüllten Arme, die dicht mit hellen Haaren bewachsen waren. »Herrschaften!«, rief er. »Ich bitte doch!«
Diesmal dauerte es um einiges länger als beim ersten Mal, bis das Getuschel verstummte und er weitersprechen konnte.
»Man fand Herrn Rotgerber in einer Gasse, wo ihn offenbar sein Mörder überrascht hat.«
»Mord?«, rief jemand aus der Menge.
Spindler nickte. »Ihm wurde …« Der Rest seiner Worte ging in dem Wirbel von Mechthilds Gedanken unter. Sie hörte nicht, was der Priester den Anwesenden berichtete. Wie durch einen Schleier sah sie, dass Spindler sich an Agnes Rotgerber wandte und ihr ein paar tröstende Worte spendete. Dann sah sie, dass die Spitalmeisterin etwas sagte. Doch kein Wort drang bis zu Mechthild durch, denn das Einzige, was sie denken konnte, war: Konrad Rotgerber war tot!
Plötzlich fiel ein Name, und der Schleier ihrer Betäubung zerriss.
»… möchte ich Euch Heinrich Kramer vorstellen«, sagte Dr. Spindler.
Mechthilds Kopf ruckte hoch. Der Predigermönch, der ihr die ganze Zeit den Rücken zugekehrt hatte, drehte sich nun um und ließ
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