Madonna
seine Blicke über die Menge schweifen, so dass sie einen Blick in sein Gesicht werfen konnte. Sie erstarrte vor Entsetzen.
»Bruder Heinrich kam anstelle von Bruder Andreas Schober, der eigentlich die Stelle als Priester bei uns antreten sollte«, erklärte Dr. Spindler. »Leider hat auch Bruder Andreas durch einen tragischen Unfall sein Leben verloren, und Bruder Heinrich war so freundlich, uns davon zu unterrichten. Aus diesem Grund haben wir ihm angeboten, für die Dauer seines Aufenthalts in Nürnberg im Spital zu übernachten.«
Mechthild hörte seine Worte, aber sie ergaben nicht den geringsten Sinn für sie. Ihr Verstand weigerte sich, zu begreifen, wer dort vor ihr stand. Heinrich? Herr im Himmel!
Alles Blut wich aus ihrem Gesicht.
Das kann nicht sein!, heulte es in ihr.
»Witwe Augspurger!« Jemand fasste sie an der Schulter, und sie zuckte zusammen. Nur mit Mühe richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Gesicht, das dicht vor ihr schwebte. Sie schaute in zwei besorgte Augen. »Geht es Euch nicht gut? Ihr seid leichenblass!«
»Johannes!«, wisperte sie. An seiner massigen Gestalt vorbei warf sie einen Blick auf den Mönch, der sich nun mit Dr. Spindler unterhielt. Diese vertrauten Züge, die hellblauen Augen. Heinrichs Haar war an der Seite seines Kopfes seltsam kräuselig, und älter war er geworden, aber sonst hatte er sich kaum verändert. Er lachte über etwas, das Spindler gesagt hatte, und das Geräusch zerfetzte Mechthild schier die Brust. Hatte er sie bereits entdeckt? Offenbar nicht.
Sie musste hier weg! »Nein.« Ihre Stimme war nur ein Hauch. »Mir geht es gar nicht gut. Seid Ihr so freundlich und bringt mich hinaus an die frische Luft?«
»Natürlich.« Johannes beugte sich über sie und hob sie auf seine Arme. Die fette Pfründnerin, die neben ihr saß, schaute verwundert, achtete dann aber wieder auf das, was vorn auf der Bühne geschah.
Mechthild zwang sich, den Kopf nicht an Johannes’ Schulter zu legen. »Ins Freie«, murmelte sie.
»Schon gut.« Er drehte sich um, stieß eine Tür mit dem Absatz aufund trat nach draußen. Es dämmerte bereits. Frische Abendluft strich über Mechthilds Wangen. Sie stöhnte auf.
»Soll ich besser Dr. Krafft Bescheid sagen?«, erkundigte sich Johannes.
Mechthild schüttelte den Kopf. »Setzt mich einfach dort bei der Wiese auf die Bank!«
Er tat, worum sie ihn bat. Sie richtete den Blick auf ihre Hände.
»Geht es ihr nicht gut?« Eine Stimme ertönte hinter ihr, die ihr wie mit eiskalten Fingern das Rückgrat hinunterfuhr. Er hatte sie also doch entdeckt. Resigniert schloss sie die Augen, riss sie jedoch gleich wieder auf.
Über ihren Kopf hinweg schaute Johannes zu jemandem, der hinter ihr stand. »Nein«, sagte er. »Ihr muss schlecht geworden sein.«
»Ich kümmere mich um sie!« Der Sprecher trat einen Schritt zur Seite, so dass seine Gestalt jetzt am Rande von Mechthilds Gesichtskreis auftauchte.
Sie saß wie erstarrt, wagte nicht, sich zu bewegen. Sie schluckte schwer.
Skeptisch sah Johannes sie an. »Ich weiß nicht, ob nicht besser ein Medicus …«
»Das wird nicht nötig sein!« Die Stimme war sehr freundlich, aber gleichzeitig sehr bestimmt. Genau wie früher.
Mechthild hob eine Hand an den Mund, biss hinein.
Noch immer wirkte Johannes unschlüssig. Eine Hand legte sich schwer auf Mechthilds Schulter. Der Boden unter ihren Füßen tat sich auf.
»Es ist gut, Johannes«, krächzte sie. »Ich kenne diesen Mann …«
Der junge Scholar zog die Augenbrauen zusammen. »Wirklich? Er …«
Jetzt trat der Predigermönch hinter Mechthilds Rücken hervor, so dass er neben ihrer Bank stand. Langsam hob sie den Blick zu ihm auf, starrte ihm in die hellblauen Augen.
Er lächelte sanft, und sie glaubte, ihr Herz müsse aussetzen. »Mechthild«, sagte er. »Wir haben uns lange nicht gesehen.«
Wieder senkte sie den Blick auf ihre Hände. Wie Klauen lagen sie verkrampft in ihrem Schoß.
»Heinrich …«, hauchte sie.»Was tust du hier in Nürnberg?« Ihre Stimme schien die einer völlig Fremden zu sein.
Nachdem Heinrich dem jungen Johannes versichert hatte, dass er beruhigt gehen könne, beugte der sich der priesterlichen Autorität und zog sich zurück. Nicht ohne zuvor noch einmal einen langen, fragenden Blick auf Mechthild geworfen zu haben.
Jetzt ließ sich Heinrich dicht neben ihr auf der Bank nieder. »Was glaubst du?«
Sie wusste es, aber sie vermochte nicht zu antworten. Jetzt, da Johannes fort war, fiel ihr Blick
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