Maechtig, mutig und genial
gekanntem Ausmaß zu roden. Tausende von Siedlern kamen, um Landwirtschaft und Viehzucht zu betreiben. Auch viele Gummizapfer wurden Bauern. Die Bulldozer hinterließen riesige Pfützen, in denen sich stehendes Wasser sammelte, und so nahm die Malaria überhand. Fünfmal erkrankte Marina an Malaria, und auch von derLeishmaniose blieb sie nicht verschont, doch sie überlebte. Zwei ihrer jüngeren Schwestern aber starben an Malaria und Masern, und als Marina 14 Jahre alt war, erlag ihre Mutter einer Meningitis, weil es in der abgelegenen Region an angemessener medizinischer Versorgung fehlte. Somit war Marina künftig für die Versorgung ihrer jüngeren Geschwister verantwortlich – bis sie selbst an Hepatitis erkrankte. Sie schlug ihrem Vater vor, sie in Rio Branco auf eine katholische Schule zu schicken, denn dort würde sie medizinische Hilfe bekommen und könnte sich ihre beiden Lebensträume erfüllen: Lesen und Schreiben zu lernen und Nonne zu werden. Die Großmutter hatte Marina zur frommen Katholikin erzogen. Glaubensfragen hatten sie bereits in ihrer Kindheit bewegt, und bis heute hat sie stets ihre Bibel bei sich. Zu ihrem Erstaunen stimmte der Vater zu.
Sie kam bei Verwandten unter, und als ihre Hepatitis auskuriert war, suchte sie sich eine Stellung als Hausmädchen und nahm abends an einem Programm zur Alphabetisierung Erwachsener teil. Sie absolvierte das Pensum der Grundschule in einem Jahr und fand dann einen Konvent, zu dem eine Schule gehörte und der sie aufnahm. Ein Jahr später bestand sie bereits die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium und nach nur zwei weiteren Jahren das Abitur. Ihren Traum, Nonne zu werden, begrub sie jedoch wenige Monate vor der Weihe. Sie hatte beschlossen, eine Familie zu gründen und Kinder zu erziehen, denen es einmal besser gehen sollte. Und sie wollte politisch aktiv sein.
Währenddessen ging in Acre Hektar um Hektar Wald in Flammen auf, um Farm- und Weideland zu weichen. Familien, die bislang vom Wald gelebt hatten, landeten in den Elendsvierteln von Rio Branco. Vielerorts regte sich bereits Widerstand: seitens christlicher Basisgemeinden, die überall in Brasilien entstanden, sowie seitens sich formierender Gewerkschaften, die der Militärdiktatur zum Trotz mehr Rechte für die Arbeiter forderten. Marina schloss sich einer Gruppe an, die von demGewerkschafter Chico Mendes angeführt wurde und Blockaden gegen die oftmals bewaffneten Rodungstrupps organisierte. Mendes versuchte, die Männer mit den Kettensägen mit Argumenten auf seine Seite zu ziehen, und manchmal gelang dies. Doch so manche Blockade endete blutig. Die Blockierer, die lediglich auf passiven Widerstand setzten, mussten Schläge, Tritte und Schüsse einstecken. Und manchmal gab es Tote.
Nach einer Weile leitete Marina ebenfalls Blockaden. Und sie engagierte sich in einer Basisgemeinde, wurde mit der Theologie der Befreiung vertraut sowie mit den Methoden des Pädagogen Paulo Freire, die darauf abzielten, armen Menschen nicht nur Lesen und Schreiben beizubringen, sondern ihnen auch Selbstbewusstsein zu vermitteln und sie in die Lage zu versetzen, ihr Leben zu verändern. Marina Silva lernte viel über soziale Gerechtigkeit und setzte sich dafür ein. Franz von Assisi und Gandhi wurden dabei ihre Vorbilder.
In ihrer Gemeinde lernte sie ihren ersten Mann Raimundo Souza kennen. Er half ihr, ihre erste Demonstration in Rio Branco zu organisieren, den »Marsch der Ausgeschlossenen«, der Wasser- und Elektrizitätsanschlüsse für die
favelas
, die Elendsviertel forderte. Raimundo machte ihr einen Heiratsantrag, und sie nahm an. Vorher wollte sie jedoch die Aufnahmeprüfung für die Universität bestehen. Wieder machte ihr die Gesundheit einen Strich durch die Rechnung – eine schwere Hepatitis, die in Rio Branco nicht zu behandeln war. Die Familie legte zusammen, und Marina flog zum ersten Mal in eine Großstadt, nach São Paulo. Im Krankenhaus schockierte sie erneut die Ungerechtigkeit: Es starben Patienten, weil sie kein Geld für die ärztliche Behandlung hatten.
Erst nach drei Monaten kehrte sie nach Rio Branco zurück. Die Aufnahmeprüfung für die Universität hatte sie verpasst, sie holte sie aber im darauffolgenden Jahr nach und schrieb sich für Pädagogik und Geschichte ein. Später, als Senatorin in Brasilia, studierte sie an der dortigen Universität noch Theorie der Psychoanalyse und Psychopädagogik.
1980 heiratete sie Raimundo, der inzwischen eine Ausbildung als Elektriker beendet hatte.
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