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Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten

Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten

Titel: Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Muriel Spark
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ob er sich das Leben nehmen oder einen ähnlich drastischen Schritt tun sollte, der unter dem Stichwort Father d’Arcy bekannt war. Letzterer war ein jesuitischer Philosoph, der das Monopol für Bekehrungen englischer Intellektueller besaß, erklärte Rudi. Nicholas war bis zum Ausbruch des Krieges Pazifist gewesen, sagte Rudi, und trat dann in die Armee ein. «Ich traf ihn einmal in Uniform auf der Piccadilly und er erklärte mir, der Krieg hätte ihm den Frieden gebracht», sagte Rudi. «Als nächstes wurde er mit einem Trick aus der Armee herauspsychioanalysiert und arbeitete dann für den Nachrichtendienst. Die Anarchisten haben ihn nebenbei bemerkt aufgegeben, aber er selbst bezeichnet sich nach wie vor als Anarchist.»
    Diese Bruchstücke aus Nicholas Farringdons Lebensgeschichte, die ihr über Rudi zukamen, konnten Jane keineswegs gegen ihn einnehmen – im Gegenteil, sie verliehen ihm etwas unwiderstehlich Heroisches in ihrer Vorstellung, und unter ihrem Einfluß auch in den Augen der Mädchen aus dem obersten Stock.
    «Er muß ein Genie sein», sagte Nancy Riddle.
    Nicholas hatte die Angewohnheit, auf eine ferne Zukunft hinzuweisen und zu sagen: «Wenn ich erst berühmt bin …» Und das in genau dem gleichen Ton heiterer Ironie wie der Busschaffner der 73, der seinen Kommentar zu den rechtlichen Zuständen im Land mit den Worten einleitete: «Wenn ich erst an der Macht bin …»
    Jane zeigte Rudi die ‹Sabbat-Notizen›, die so hießen, weil Nicholas als Motto den Text verwendet hatte: ‹Der Sabbat ward für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat!›
    «George muß von Sinnen sein, daß er das verlegen will», sagte Rudi, als er Jane das Manuskript zurückbrachte. Sie setzten sich in den Aufenthaltsraum, an dessen anderem Ende schräg gegenüber ein Mädchen bei offenem Fenster Tonleitern auf dem Klavier übte – mit allem Ausdruck, den Tonleitern zulassen. Das Geklimper war weit genug entfernt und so stark von den Sonntagmorgengeräuschen auf der Terrasse übertönt, daß Rudis Stimme, der in seinem Ausländer-Englisch kleine Passagen aus Nicholas’ Buch vorlas, um Jane irgend etwas daran zu beweisen, nicht allzusehr davon beeinträchtigt wurde. Dabei verfuhr er etwa wie ein Tuchhändler, der, in der Absicht, seinen Kunden zur besten Qualität zu überreden, ihm zuerst einmal mindere Stoffproben vorlegt, sie anfühlt, die Meinung des Kunden herausfordert, und sie dann achselzuckend beiseite wirft. Jane war überzeugt, daß Rudi bei allem, was er vorlas, mit seinem Urteil recht hatte, aber in Wahrheit war sie weitaus mehr fasziniert von den kleinen Einblicken in Nicholas Farringdons Persönlichkeit, die sie aus Rudis beiläufigen Bemerkungen gewonnen hatte. Nicholas war der einzige präsentable Intellektuelle, dem sie begegnet war.
    «Er ist weder gut noch schlecht», sagte Rudi und wiegte seinen Kopf hin und her. «Er ist knapper Durchschnitt! Ich erinnere mich, daß er das da 1938 schrieb, als er einen sommersprossigen Bettgenossen hatte – diesmal weiblichen Geschlechts. Es war eine Anarchistin und Pazifistin. Hören Sie doch nur einmal …» Und er las laut:
    «X schreibt eine Geschichte des Anarchismus.
    Anarchismus hat eigentlich keine Geschichte in dem Sinne, wie sie X vorschwebt, i. e. im Sinne von Kontinuität und Entwicklung. Er ist eine spontane Volksbewegung zu bestimmten Zeiten und unter besonderen Umständen. Eine Geschichte des Anarchismus hätte nichts mit politischer Geschichte gemein, sie gliche weit eher der Geschichte des Herzschlags. Man kann neue Entdeckungen darüber machen, man kann die Reaktionen unter verschiedenen Bedingungen vergleichen, aber es gibt da nichts grundsätzlich Neues.»
    Jane dachte an die sommersprossige Freundin, mit der Nicholas damals geschlafen hatte, und sie konnte sich nahezu vorstellen, daß die beiden die ‹Sabbat-Notizen› mit ins Bett genommen hatten. «Was ist aus seiner Freundin geworden?» fragte Jane. «Da läßt sich nichts dagegen sagen», erklärte Rudi und meinte das, was er gerade vorgelesen hatte, «aber es ist keine so überwältigende Wahrheit, daß er wie ein wirklich großer Autor dafür eine ganze Seite in Anspruch nehmen müßte. Nicholas produziert pensées, weil er für einen Essay zu faul ist. Hören Sie …»
    Jane wiederholte: «Was ist aus dem Mädchen geworden?»
    «Vielleicht kam sie ins Gefängnis – wegen ihres Pazifismus. Ich weiß es nicht. Wenn ich George wäre, würde ich das Manuskript nicht

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