Maedchenauge
in die Innenstadt gefahren, um sich Drogen zu besorgen. Ziemlich mühsam.«
»Eher gut durchdacht«, sagte Lily. »Die Dealer im Zentrum sind zum Teil auf quasinoble Kundschaft spezialisiert und wissen, welches Verhalten gefragt ist. Was sich allerdings im Preis niederschlägt. Es ist wie mit den Boutiquen teurer Designer. Die Kunden bezahlen für die Architektur und die Umgangsformen des Personals.«
In einem Dienstwagen der Polizei waren Lily und der Major zu dem Haus unterwegs, in dem Tom bis gestern gelebt hatte. Lily wollte die Atmosphäre des Gebäudes kennenlernen.
Toms Schwester Lavinia hatte sich am Telefon kooperativ gezeigt. Nein, niemand habe ihr verboten, mit den Ermittlern zu sprechen, hatte sie Lily mitgeteilt. Und sie lasse sich von anderen Menschen auch nichts vorschreiben. Jederzeit könne man sie besuchen, man müsse sie nur rechtzeitig darüber informieren.
Das Fahrzeug hielt vor der grau-gelblichen Villa am Linnéplatz. Das Gebäude sah aus, als sei es Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet und seitdem kaum renoviert worden. Die Hitze der vergangenen Wochen hatte Pflanzen und Bäumen zu schaffen gemacht, während Unkraut fröhlich gedieh. Dennoch hatte sich das Gebäude einen unzerstörbaren Rest an Würde und Wucht bewahrt.
Lily stieg aus dem Auto. »Die Saborskys leben in einer guten Gegend.«
»Schattenseiten gibt es auch hier«, sagte Belonoz düster. »Vor ein paar Monaten waren meine Leute dienstlich in der Nähe. Ein Mann hatte sein kleines Kind zu Tode geprügelt.«
»Wo Menschen sind, gibt es Abgründe. Aber diese Umgebung mildert die Tragik. Man hat das Gefühl, dass es noch so etwas wie Ordnung gibt, die alles wiedergutmacht. Weil man sich in die Behaglichkeit und Sicherheit dieser Häuser zurückziehen kann, bis der Sturm vorüber ist. Allerdings …«
»Ja, Frau Doktor?«
»Eine Villenetage in dieser Gegend wäre schon teuer genug. Aber gleich eine ganze Villa für eine Familie allein …«
Belonoz grinste sarkastisch, doch aus Höflichkeit senkte er dabei kurz seinen Kopf. »Was heißt Familie? Zwei Personen. Aber das ist ein spezieller Fall. Die Villa ist nach dem Zweiten Weltkrieg in den Besitz der Stadt Wien gelangt. Irgendein Institut oder Unternehmen im Dunstkreis des Rathauses war hier untergebracht. Dann sind die ausgezogen und Saborsky hat die Villa der Stadt abgekauft. Zum Freundschaftspreis.«
»Na dann …«, sagte Lily überrascht und drückte auf die Taste der altmodischen, stark abgewetzten Gegensprechanlage. Ein Namensschild fehlte.
Zunächst war nichts zu hören. Etwa eine Minute lang.
Bis sich die von starkem Rauschen unterlegte, elektronisch verfremdete Stimme einer Frau meldete.
»Ja?«, fragte sie.
»Lily Horn von der Wiener Staatsanwaltschaft.«
»Kommen Sie herein.«
Ein leichtes Summen ertönte, gleichzeitig war aus dem Schloss des Tores ein Knacken zu vernehmen. Lily stieß das Tor auf. Gefolgt von Belonoz, schlenderte sie den kurzen, verwahrlosten Schotterweg zur Haustür.
Eine junge Frau mit mädchenhafter Ausstrahlung erschien im Türrahmen. Lily schätzte sie auf Anfang zwanzig. Und schalt sich dafür, sich das genaue Geburtsdatum nicht eingeprägt zu haben.
Lavinia trug ihr seidig schimmerndes, dunkelblondes Haar zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden. Die blasse Haut kontrastierte mit dem bodenlangen, tiefschwarzen Kleid, das ihren Körper umhüllte. Sie war sehr schlank, doch ihr Körperbau ließ sie auf den ersten Blick viel robuster erscheinen. Ihre Figur wirkte weiblich und hatte zugleich etwas Fragiles an sich. Sie war ungeschminkt, deshalb dominierten ihre ausdrucksvollen, hellblauen Augen das Gesicht. Ihre kurzgeschnittenen Finger- und Zehennägel waren nicht lackiert, und sie war bloßfüßig. Lily überlegte, welchen Männern diese junge Frau wohl gefiele. Lavinia wirkte teilweise schon erwachsen-fraulich, teilweise noch kindlich-unschuldig. Möglicherweise zog sie sowohl jene an, die zu Beschützergefühlen neigten, wie solche, die selbst beschützt und umsorgt werden wollten.
Lavinias Stimme war weich und melodiös. »Willkommen, Frau Doktor Horn.«
»Das ist Major Belonoz von der Kriminalpolizei«, sagte Lily und deutete auf Belonoz. Sie hatte sich entschlossen, den Begriff Mordkommission aus psychologischen Gründen zu unterlassen.
Lavinia schüttelte schüchtern die Hand des Majors und bat die beiden ins Haus.
Lilys erster Eindruck war der eines Antiquitätengeschäfts. Praktisch jeder verfügbare Platz war
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