Maedchenmoerder Ein Liebesroman
sondern den ganzen Weg hinunter- und den anderen Stamm wieder hinaufklettern müsste.
Doch ich bin sicher - diese Gedanken mache ich mir jetzt erst, wo ich hier in Berlin an dem alten Kneipentisch sitze (den ich als Schreibtisch benutze) und alles noch einmal Revue passieren lasse. (Vielleicht habe ich mich auch bloß bei meinen Feinden angesteckt.) An jenem Sonntagmorgen in Lourdes wusste ich nichts von einem anderen Baum. Da gab es nur den einen Baum, dessen Krone zu erklimmen ich mich anschickte. Und so wie an einem Nadelbaum nun mal kein Laub wächst, wuchs an meinem Baum kein Mitleid.
Liebe alte Krokodilseele, die Wahrheit ist: Dein Jagdfieber hatte auch mich gepackt. Ich jubelte innerlich, als Du die arme Hermana Lucía ins Auto gezerrt und mir befohlen hast, hinten in den Wagen zu springen, den Du bereits mit jaulendem Motor gestartet hattest. Ich war so glücklich darüber, wie alles klappte - es störte mich nicht einmal, dass Du sofort auf Spanisch losgezischt hast und ich kein Wort mehr verstand. Unsere Fahrt ins Vallée d’Ossoue erschien mir als das Aufregendste, was ich in meinem ganzen bisherigen Leben gemacht hatte - ja, in gewisser Weise fühlte ich mich zum ersten Mal überhaupt lebendig , diese ganzen Zerrissenheiten und Zweifel, die mich Tag und Nacht gequält hatten und die jetzt schon wieder anfangen, waren fort.
Es muss dasselbe Gefühl sein, wie wenn man zu zweit aus dem Flugzeug springt: Das freie Fallen, alle Nervenfasern surren, und man weiß, dass man selbst gar nichts tun kann außer zu hoffen, dass der Mann mit dem Fallschirm die Reißleine im richtigen Moment ziehen wird. Alles rauscht vorbei und gleichzeitig ist alles ein riesiger Stillstand. (So zumindest stelle ich mir Fallschirmspringen vor. Wenn es mir wieder besser geht, will ich es unbedingt einmal ausprobieren.)
Noch nie habe ich Natur intensiver erlebt als in jener kurzen Ewigkeit, die wir zu dritt durch den Buchenwald in den Pyrenäen gestolpert sind: Die Gerüche, die Geräusche, das Gefühl des Nieselregens auf meiner Haut, die plötzlich hundertmal empfindlicher war als sonst, so wie meine Nase und meine Ohren hundertmal empfindlicher waren - alle Grenzen schienen aufgelöst, die Dinge berührten mich direkt. Du und Hermana Lucía und ich, wir waren Teil von etwas viel Größerem, und ich hatte keine Angst, Zeugin zu sein, ich empfand weder das Bedürfnis, mir die Ohren zuzuhalten, noch das, die Augen zu schließen, als Du das Messer, das Du am Pont du Gard gekauft hattest, aus der Tasche gezogen und damit zunächst das Gewand zerschnitten hast, das den Körper unserer Nonne verhüllte. Ich glaubte sogar, ihr spanisches Flehen - auf das Du keine Rücksicht nahmst - zu verstehen, weil es plötzlich ein Geräusch unter vielen Geräuschen des Waldes war. Alles schien mir seiner natürlichen Ordnung zu folgen, als ich zuerst das weiße Kleid, dann den ebenso weißen Körper unserer Nonne und zuletzt Dich auf den laubbedeckten Boden sinken sah. Ich konnte die Augen nicht abwenden, als sich Dein muskulöser Körper über den anderen larvenweichen Körper hermachte und ihn erschütterte. Mein einziger Gedanke war: Wie hilflos dieses Fleisch doch ist, das im Rhythmus Deiner Stöße schwappte, und wie Recht man daran tut, es zu verachten.
Ob unsere Hermana noch mehr gelitten hat, als Du erneut zum Messer griffst? Oder war sie dankbar, dass ihr Fleisch so schnell bestraft wurde? Sie weinte nicht. Alles, was sie schrie, war: » Señor « und » Piedad «, und ich vermag auch jetzt nicht zu entscheiden, wen sie damit meinte: Dich oder jenen Herrn, dem sie ihr Leben geweiht und der sie im Stich gelassen hatte.
Und dann haben mich doch ein paar verdammte Zweifel beschlichen:Woher nahm diese Frau ihre Kraft, nicht zu betteln und zu winseln? Hast wirklich Du sie besiegt? Oder hat in Wahrheit sie Dich besiegt, indem sie zum Schluss hin immer dringlicher verlangte: » ¡Mátame! « (»Töte mich!«) » ¡Por favor, mátame! «
In diesen Momenten haben ich sie bewundert. Noch nie hatte ich einen Menschen erlebt, der so tief in den Schmerz eingetaucht war und ihm widerstanden hatte. Und als dann auch noch der Himmel mitspielte, indem er den Regen abstellte und ich das lila Blümchen entdeckte, das neben ihrem Kopf wuchs, und die Ameise, die über ihre Stirn krabbelte - da musste ich zu Euch hingehen und Dir das Messer aus der Hand nehmen, die ganz schlaff neben Deinem Körper lag, so als sei nicht nur unsere Nonne gestorben, sondern
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