Männer schweigen: Ein Sylt-Krimi
17. Juni, 23.11 Uhr,
Gartenweg, Tinnum
Unsicher wandert Birgit Westermürs Blick von der Schokoladentafel zum Laptop. Der steht in Reichweite auf dem Couchtisch und wäre in Windeseile hochgefahren. Auch das Passwort für den geschützten Bereich weiß Birgit noch genau, obwohl sie es nach der Speicherung nie wieder bemüht hat. Aber Schweinkram scheint ihr immer noch eine ziemlich treffende Bezeichnung für die heimlich kopierten Fotos zu sein.
Die ehemals 300 Gramm schwere Schokoladentafel liegt direkt auf Birgits Schoß und ist schon ziemlich dezimiert. Birgit weiß genau, dass jeder Bissen pures Hüftgold ist und bestimmt nicht dazu beitragen wird, ihre Attraktivität in den Augen ihres abtrünnigen Ehemanns zu erhöhen. Doch darum geht es jetzt gar nicht mehr. Ihr Problem ist ein ganz anderes. Während ein weiterer Riegel Vollmilch-Nuss in Birgits Mund verschwindet, angelt sie nach dem Laptop und drückt auf die Start-Taste. Als die Erkennungsmelodie ertönt, schließt Birgit die Augen und versucht, sich die gespeicherten Bilder ins Gedächtnis zu rufen. Doch so intensiv sie die Bilder auch in den letzten Monaten verfolgt haben, so schwammig erscheinen sie ihr jetzt. Immer wieder schiebt sich das blasse Gesicht der Toten aus der Tagesschau vor ihre Erinnerung, und Birgit wüsste einfach nicht zu sagen, ob das nun die Frau von Gerds Porno-Website ist oder nicht.
Nachdem sie das Passwort eingegeben und die Datei geöffnet hat, erscheinen die gespeicherten Fotos. Birgit verschluckt sich an ihrer Schokolade. Sie spült mit Cola nach und hustet.
Die Bilder sind noch drastischer als Birgit sie in Erinnerung hat. Die Schenkel der Nutte noch weiter geöffnet, die Brüste noch höher gebunden. Sogar die Zunge ist zu sehen, wenn auch in deutlich anderer Absicht als auf dem Foto in der Tagesschau. Und wenn man den lüsternen Ausdruck auf dem Laptop-Gesicht durch die starre Schreckmine der Fernseh-Toten ersetzt, dann ist der Befund ganz eindeutig.
Sie ist es. Die Sylter Tote ist Gerds heimlicher Internet-Schwarm.
Birgit steht auf und holt sich eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank. Knallend fliegt der Korken an die Zimmerdecke. Schäumend sprudelt der Sekt auf den teuren Perserteppich. Birgit ist im Moment nichts gleichgültiger als der Zustand ihrer Wohnung. Sie nimmt ein Glas aus der Vitrine und gießt es randvoll.
»Auf dich, du tote Nutte«, prostet sie und leert das Glas mit einem Zug.
Samstag, 18. Juni, 10.19 Uhr,
Haus Dünenkante, List
Weit oberhalb der Blidselbucht im Süden von List thront ein dreiflügeliger Bau auf der Kuppe einer Düne. Das reetgedeckte Haus ist in mehrere Eigentumswohnungen unterteilt und wird teilweise an Feriengäste vermietet. Der Psychoanalytiker Manfred Pabst hat vor 15 Jahren beim Bau des Hauses zwei der insgesamt sechs Wohnungen gekauft. Die obere hat er bezogen, die untere wird vermietet und finanziert die Abzahlung der Hypotheken. Das Modell ist zwar steuerlich günstig, aber nicht ohne ärgerliche Nebenwirkungen. Schließlich muss sich Pabst fast wöchentlich an neue Nachbarn gewöhnen, und nicht immer sind die Kinder der Feriengäste so wohlerzogen, wie er sich das wünschen würde. Zum Glück geht wenigstens sein Balkon nicht nach Südosten wie die Terrassen der Wohnungen. So muss Pabst zwar auf den grandiosen Weitblick über die Blidselbucht bis nach Kampen verzichten, aber dafür hat er einen schattigen Frühstückstisch und die Abendsonne für sich ganz allein.
An einem heißen Sommertag wie diesem ist es schon am Morgen warm genug für ein Frühstück im Freien. Manfred Pabst stellt die Kaffeetasse auf dem Teakholztisch ab, legt die FAZ daneben und greift nach der Lokalzeitung. Doch als er die Sylter Rundschau aufschlägt, erstarrt er.
Die rothaarige Schönheit hat ihn nicht nur bis in seine Träume verfolgt, jetzt liegt sie auch noch hier vor ihm neben dem Frühstücksteller. Ihr Gesicht füllt fast die gesamte Titelseite, immerhin lässt sie sich auf diese Weise in Ruhe betrachten. Kein Hubert Mönchinger nimmt dem Analytiker in eifersüchtigem Besitzstolz viel zu schnell das Foto wieder ab. Manfred Pabst sieht genau hin, er weidet sich ausführlich an den ebenmäßigen Zügen. Vor allem die roten Haare haben es ihm angetan. Schlangengleich ringeln sie sich herab und fallen in weichen Wellen auf die verführerisch nackten Schultern. Ein Prachtweib. Aber leider tot. Der Analytiker bemüht sich, Mitleid zu empfinden, doch es will ihm nicht gelingen.
Die Frau
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