Männer schweigen: Ein Sylt-Krimi
Marleens Hand an seine Lippen.
»Na, bist du nicht der Seelendoktor mit den Röntgenaugen, dem noch die geheimsten Regungen seiner Mitmenschen nicht verborgen bleiben?«
Pabst lacht ein trockenes Lachen, das ziemlich unfroh klingt.
»Um ehrlich zu sein, habe ich mir das auch immer eingebildet. Aber letztens ist mir ein ganz blöder Schnitzer passiert. Ich schäme mich sehr dafür. Und, um ehrlich zu sein, ist dieser Schnitzer auch der Auslöser für meinen Antrag. Es ist nicht sehr schmeichelhaft, das muss ich zugeben, aber hättest du letzte Woche schon bei mir gewohnt, dann wäre ich sicher besser beraten gewesen.«
»Was hast du denn Furchtbares angestellt?«, erkundigt sich Marleen lachend und hält dem Analytiker auffordernd ihr leeres Glas entgegen. Allerdings ist ihr nicht entgangen, dass die doppelte Erwähnung von Ehrlichkeit in so kurzem Abstand in der Regel eher auf eine dicke Lüge hinweist. Während Manfred Pabst seiner Freundin großzügig nachschenkt, wartet sie gespannt auf seine Erklärung.
»Ich habe mich in der Einschätzung eines Patienten verhoben. Mir fielen diverse Widersprüche auf, alle im Hinblick auf sein häusliches Umfeld. Ich will nicht indiskret sein und dich außerdem nicht mit der ganzen Geschichte langweilen, aber es ist Folgendes passiert: Er wohnt in Westerland, und ich bin in der Nacht nach einer ziemlich quälenden Therapiesitzung, leider nicht mehr ganz nüchtern, zu seinem Haus gefahren. Dort habe ich geklingelt. Ich wusste, dass er nicht da sein würde, wollte aber mal einen Blick auf seine Frau werfen, von der er merkwürdigste Dinge erzählt hatte.«
»Okaaay. Bisher kann ich daran noch nichts besonders Verwerfliches erkennen. Ist vielleicht etwas übergriffig, aber wenn es der therapeutischen Klarheit dient.«
»Ich traf auf die Schwester dieses Patienten, er hatte sie nie erwähnt. Das hat mir in der Tat bei der Einschätzung der Lage geholfen. Das Problem ist allerdings, dass die Ehefrau, die ich mir eigentlich ansehen wollte, offenbar kurz vor meinem Eintreffen abgehauen war. Und zwar endgültig. Niemand hat sie danach gesehen. Jetzt sucht die Polizei nach ihr – leider mit einer Phantomzeichnung von mir.«
»Echt? Du bist auf einem Steckbrief?« Marleen kichert.
»Das ist weniger lustig, als du vielleicht denkst. Wir Analytiker leben von unserer Diskretion. Und jetzt das.«
»Aber warum suchen die überhaupt nach dir?«
»Ich muss die Ehefrau meines Patienten knapp verfehlt haben, und diese Schwester hat meinen Besuch offenbar mit dem Verschwinden der Schwägerin in Beziehung gesetzt.«
»Und warum kommen die Beamten dann nicht direkt zu dir und fragen dich?«
»Ich war anscheinend so clever, mich nicht zu erkennen zu geben. Oder die Schwester hat sich meinen Namen nicht gemerkt. Ich weiß selbst nicht mehr genau, was ich zu ihr gesagt habe.«
»Also wird demnächst irgendjemand dein Bild identifizieren, und du brauchst jemanden, der bezeugt, dass du gar nicht dort warst.«
»Wäre jedenfalls besser für meine Reputation«, gibt Manfred Pabst kleinlaut zu.
»Das könnte ich aber auch machen, ohne dass du mit mir zusammenziehen musst«, bietet Marleen an.
»Lieb, dass du das sagst. Aber weißt du, es geht um mehr. Ich schäme mich ziemlich für diese Aktion und habe, wie du dir denken kannst, mir schon heftige Vorwürfe deswegen gemacht. Es war im Grunde genommen eine Entgleisung, es ist übergriffig und durch nichts zu rechtfertigen. So etwas darf einfach nicht passieren. Und, na ja, um es kurz zu machen, ich dachte, es könnte mir gut tun, wenn wir beide ein gemeinsames Leben hätten, etwas das normal ist und nichts mit dem gelinden Irrsinn meiner Patienten zu tun hat. Wenn ich abends allein bin, kreisen meine Gedanken viel zu oft um deren Probleme. Mit dir zusammen ist das anders.«
»Dass ich das noch mal von dir hören würde, hätte ich ja nicht gedacht.« Marleen schiebt energisch die Bedenken beiseite, die die Äußerungen Manfred Pabst in ihr ausgelöst haben. Wie gern wäre sie einfach nur gerührt von den offenen Worten ihres Liebhabers. Aber fragt er wirklich aus lauteren Beweggründen? Andererseits hat sie kaum eine Wahl. Liebend gern würde sie bei ihm wohnen, also sollten sie die wahren Gründe für Manfred Pabsts Bitte vielleicht einfach nicht kümmern.
Marleen stellt ihr Glas ab und lässt sich vom Barstuhl gleiten. Dann schüttelt sie ihre dunklen Locken im Sonnenlicht und geht langsam auf den Analytiker zu. Sie legt ihre Hände an
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