Maenner weinen nicht
Zahlen stimmen mit Studien aus den USA überein: Dort waren nahezu ein Prozent der Vorschulkinder, zwei Prozent der Schulkinder und zwischen zwei und neun Prozent der Jugendlichen an Depressionen erkrankt.
Jungs und Mädchen seien über die Jahre betrachtet in etwa gleich häufig betroffen, so Ravens-Sieberer. In einer durchschnittlichen Schulklasse ist also mindestens ein Kind depressiv. Das mag auf den ersten Blick wenig erscheinen; genauer betrachtet ist die Depression unter Erwachsenen jedoch nur anderthalb Mal häufiger. Körperliche Erkrankungen wie Bluthochdruck, Krebs oder Diabetes treten dagegen im Vergleich zu ihren Eltern nur bei einem Bruchteil der Kinder auf.
Die Depressionsfälle unter Kindern und Jugendlichen sind über die Jahre stabil geblieben. Allerdings seien Fachleute, Lehrer und Eltern in den vergangenen Jahren sensibler für das Auftreten psychischer Störungen bei ihren Zöglingen geworden, sagt Ravens-Sieberer, sodass diese auch häufiger behandelt würden. Claus Barkmann, Juniorprofessor für Psychologie an der Uniklinik Hamburg, bestätigte die gleichbleibenden Zahlen in einer 2012 veröffentlichten Arbeit, für die er 33 Studien analysiert hatte. Seit nunmehr 50 Jahren habe durchschnittlich jedes sechste Kind seelische Probleme oder sei verhaltensauffällig.
Die verantwortlichen Psychologen der BELLA -Studie wollten mit ihren Interviews nicht nur herausfinden, wie häufig junge Menschen psychische Probleme haben; sie suchten vor allem nach Risikofaktoren und nach Lebensbedingungen, die vor seelischen Krankheiten schützen können. Häufiger psychisch auffällig waren einerseits Kinder mit einem niedrigen sozioökonomischen Status. Darunter fassen Experten Eigenschaften wie Schulabschluss, das Einkommen und den sozialen Status zusammen. Zu den wichtigsten Risikofaktoren gehörten aber auch Konflikte in der Familie, psychische oder schwere körperliche Erkrankungen eines Elternteils oder Probleme zwischen den Eltern. Kinder und Jugendliche, die mehr als vier dieser Risikofaktoren ausgesetzt waren, zeigten in mehr als der Hälfte der Fälle Hinweise auf seelische Störungen. »Gesunde Kinder wuchsen häufiger in einem positiven Familienklima auf«, erklärt Ravens-Sieberer. In diesen Familien wurde auf die Sorgen und Nöte des Einzelnen eingegangen, jeder hatte das Gefühl, dass ihm zugehört wurde, und die Familie unternahm häufig gemeinsame Dinge. »Die Ergebnisse der BELLA -Studie zeigen uns, wie wichtig es ist, schon sehr früh mit Präventionsmaßnahmen zu beginnen, da bereits sehr junge Kinder psychische Probleme haben«, sagt Ravens-Sieberer.
Erinnern, wann er das letzte Mal so richtig glücklich war, kann sich der 13-jährige Theo nicht. Der Sommerurlaub vor zwei Jahren? Nein, auch während der gemeinsamen Tage mit seinem Vater hatte er immer wieder düstere Gedanken im Kopf. Die Klassenfahrt nach Paris im Frühjahr davor? Vielleicht. Und dazwischen? Die Scheidung seiner Eltern, der Wegzug des Vaters aus München in ein Nest am anderen Ende der Republik. In dieser Zeit muss es gewesen sein, dass sich die trüben Gedanken in seinem Kopf einnisteten. Theo nennt es »das schwarze Gespenst«, das er immer seltener verscheuchen kann. Er hat es so satt, dieses ewige Einerlei aus Aufstehen, Essen, Schule. In den Nächten liegt er oft wach, grübelt, warum in seinem Leben eigentlich alles so schiefläuft. Dass er gern bei seinem Vater wäre. Dass er aber seine Mutter nicht verletzen möchte. Längst trifft er sich nicht mehr mit seinen Freunden. Zu Hause, in seinem Zimmer, da fühlt er sich am wohlsten. Stundenlang liegt er auf dem Bett und starrt an die Decke. Weder die Späße seiner kleinen Schwester noch das lang ersehnte Computerspiel zum Geburtstag können ihn erfreuen. Leben – wozu? Da sein – für wen? Hoffen – worauf? Diese Leere, diese Hoffnungslosigkeit wollen irgendwie nicht aufhören.
Lange Zeit stritten sich die Experten darüber, ob Kinder überhaupt an Depressionen erkranken können. Ein Mensch, so die Fachmeinung, könne doch erst dann verzweifelt sein und sich in Frage stellen, wenn er in der Lage sei, über sein Handeln zu reflektieren. Erschwerend kam hinzu, dass sich über die verschiedenen Altersstufen vom Kleinkindalter bis in die Pubertät keine einheitlichen Kriterien für eine Depression festlegen ließen.
Heute weiß man, dass sich Depressionen bei jüngeren Patienten einfach anders äußern. Vor allem kleinere Kinder können noch gar nicht über ihre
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