Maenner weinen nicht
I
»Vor ein paar Wochen war ich psychisch ganz unten; mittlerweile geht es schon wieder. Der Auslöser? Eine Herzattacke. Die Ärzte haben ein Röhrchen in mein verstopftes Herzgefäß eingelegt, damit es offen bleibt und ich keinen Herzinfarkt bekomme.
Der Eingriff verlief zwar glatt, doch danach bin ich einfach nicht mehr auf die Beine gekommen. Das Gemüt schwer, die Ängste groß, ich habe keinen Antrieb mehr, schlucke wieder diese Tabletten. Benzodiazepine, ich weiß, ich soll sie eigentlich nur im Notfall nehmen, denn sie machen abhängig. Dazu trinke ich Rotwein, und zwar eine ganze Menge. Das hilft, zumindest vorerst. Ich erlebe die Welt nur noch aus der Ferne, alles verschwimmt im Dunst, ich bin wie in Watte gepackt. Bis zu dem Tag, an dem ich stürze. Meine Hüfte ist grün und blau, der riesige Bluterguss am Bein macht die Ärzte ratlos. Sie checken mich in der Abteilung für Innere Medizin durch, dabei wird klar: Ich habe eine depressive Episode, verschlechtert durch ein Suchtproblem. Der erste Schritt heißt deshalb für mich: Entzug.
Es ist nicht meine erste Depression. In 20 Jahren hatte ich vier oder fünf Abstürze, wie ich sie nenne. Wenn ich zusammenrechne, wie oft ich deshalb in den verschiedenen Kliniken war, dann hat mich die Depression eine ganze Menge Lebenszeit gekostet. Gott sei Dank gab es zwischendurch immer wieder sehr glückliche Zeiten.
Dass die Schwärze immer wieder auftaucht, macht mir Angst. Besonders jetzt, wo ich mich langsam wieder erhole, fürchte ich mich schon wieder vor dem nächsten Schub. Jedes Mal hoffe ich, dass es das letzte Mal ist. Beängstigend ist auch der Unterschied zu den guten Zeiten. Es fühlt sich an, als gäbe es mich zweimal: Einmal bin ich der eloquente, umtriebige Exbauunternehmer, der jeden in der Stadt kennt und mit vielen Leuten gute Kontakte hat, dann bin ich wieder ein elendes Häuflein Mensch, das sich am liebsten verkriechen möchte. Meine körperliche Gesundheit ist immer eine Gnade für mich gewesen; mit meiner Psyche hat Gott mir einen Streich gespielt.
Angefangen hat die Misere, als man mir vor vielen Jahren Schluderei bei einem Bauauftrag vorwarf. Für mehrere Millionen Euro sollte ich haften, ich kämpfte erbittert dagegen. 20 Jahre hing das Damoklesschwert über mir: Würde ich den Prozess verlieren, wäre mir alles genommen. Schließlich hafte ich mit meinem Privatvermögen für die Firma. Zu Beginn der Vorwürfe hatte ich ein gut gehendes Büro, an die hundert Angestellte, wir stemmten große Projekte. Bis zu dieser Anzeige lief das Büro tadellos. Nie gab es Probleme auf der Baustelle, keinen Streit mit Auftraggebern oder Ärger mit den Mitarbeitern.
Mein Beruf war mein Hobby, meine Leidenschaft. Der Vorwurf, für die Schlamperei am Bau verantwortlich zu sein, traf mich umso härter; er nagte sehr an meinem Selbstbewusstsein. Kurz nachdem man Klage gegen mich erhoben hatte, trennten meine Frau und ich uns. Eins kam also zum anderen, doch zunächst konnte ich die körperlichen Zeichen nicht deuten. Ich schlief schlecht, fühlte eine schwere Last auf meiner Brust, war zerstreut, wollte nicht mal mehr ins Büro gehen. Doch ich speicherte meinen Gemütszustand als Erschöpfung ab und trat ein bisschen kürzer. Aber das allein genügte nicht, ich fühlte mich weiterhin schlecht. Bis ich merkte, was wirklich mit mir los war, vergingen Monate. Irgendwann klappte ich zusammen. Ich ging das erste Mal in die Klinik, berappelte mich – und hoffte, dass diese erste Depression ein einmaliger Ausrutscher sein würde.
Doch dieser Wunsch wird mir nicht erfüllt, wenige Jahre später das gleiche Spiel: Es erwischt mich, nachdem ich gerade das Büro verkauft habe. Die Depressionen kommen wieder. Sie lösen ein Gefühl der Leere und Verzweiflung aus, das entsetzlich ist. Alles ist tot in mir, schwarz und grau, ich bin wie gelähmt. Die Erinnerungen an gute Zeiten helfen mir in den Absturzphasen ebenso wenig wie die Gewissheit, dass ich aus dem Loch auch wieder herauskrabbeln werde.
Da für mich klar ist, dass ich es nach diesem erfüllten Berufsleben nicht aushalten würde, als Rentner zu Hause herumzusitzen, warten nach meiner nächsten Genesung schon neue Aufgaben auf mich: Ich reise als Senior-Berater im Auftrag des Auswärtigen Amtes nach Kuba, Afghanistan und Lettland und unterstütze Kollegen vor Ort beim Bau von Großgebäuden. Doch auch in den Jahren als Berater kommen die Depressionen wieder.
Heute bin ich 74 Jahre alt. Und erst jetzt
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