Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
Als meine Mutter starb, hat sie mich dem abgeschiedenen Geiste der verstorbenen Frau meines Vaters anvertraut, der ich es danke, dass ich heute hier bin. Meine alte Pflegemutter liegt verlassen draußen in den Bergen, und es sammelt niemand ihre Gebeine, so dass sie nicht Ruhe finden kann. Wenn du nicht die Mühe scheust, so stille ihren Kummer!« Wang stimmte zu, und so fuhren sie mit einem Sarg hinaus. Richtig fanden sie den Leichnam noch und setzten ihn in dem Familiengrabe bei.
Von da ab ging das Ehepaar an jedem Totenfest im Frühling zu dem Grabe der Familie Tsin und opferte und ließ es an dem Grab nicht fehlen. Ein Jahr nachher genas die junge Frau von einem Söhnchen, das vor keinem Fremden Scheu empfand und immer nah dem Lachen war, selbst als man es noch auf dem Arme trug. Das hatte es von seiner Mutter.
Wenn man Ying Nings keckes und übermütiges Lachen in Betracht zieht und gar bedenkt, was sie dem Nachbarsohne für Geschichten machte, gleicht sie einem Wesen ohne Herz. Die Art aber, wie sie für die Beerdigung der Pflegemutter sorgte, läßt erkennen, dass sie ihre eigentliche Seele nur verhüllte in dem Lachen.
96. Die Froschprinzessin
Im mittleren Yangtsekiang wird der Froschkönig sehr eifrig verehrt. Er hat einen Tempel; dort gibt es Frösche zu Tausenden und aber Tausenden, zum Teil von riesiger Größe. Wer sich den Zorn des Gottes zuzieht, in dessen Hause treten seltsame Erscheinungen auf: Frösche hüpfen auf Tischen und Betten umher; in schlimmeren Fällen kriechen sie selbst an den glatten Wänden empor, ohne dass sie herunterfallen. Verschiedene Arten von Vorzeichen gibt es; aber alle deuten daraufhin, dass dem Hause Unglück droht. Dann geraten die Bewohner in große Furcht, schlachten ein Rind und bringen es als Opfer dar. So wird der Gott umgestimmt, und es geschieht nichts weiteres.
In jener Gegend lebte ein Knabe namens Siä Kung-Schong. Er war klug und schön. Als er etwa sechs, sieben Jahre alt war, kam eine grüngekleidete Dienerin in die Wohnung. Sie nannte sich selbst eine Botin des Froschkönigs und teilte mit, dass der Froschkönig seine Tochter dem jungen Siä vermählen wolle. Der alte Siä war ein ehrlicher und beschränkter Mann, und da ihm die Sache nicht passte, schlug er es ab, weil sein Sohn noch zu jung sei. Trotz dieser Ablehnung wagte man aber doch nicht, nach einer anderen Lebensgefährtin für den Sohn zu sehen.
Einige Jahre waren darüber hingegangen, und der Junge wuchs allmählich heran. Man verabredete eine Heirat mit einem Fräulein Giang.
Der Froschkönig aber teilte ihr mit: »Der junge Siä ist mein Schwiegersohn; wie kannst du dich unterstehen, von verbotenen Früchten zu naschen!« Da fürchtete sich der Vater Giang und nahm sein Wort zurück.
Der alte Siä ward sehr betrübt darüber. Er bereitete ein Opfer und ging in den Tempel zu beten. Er brachte vor, dass er sich unwürdig fühle, mit einem Gotte in Verwandtschaft zu treten. Da er aber fertig gebetet hatte, zeigten sich in dem Opferfleisch und Wein große Maden, die wimmelnd umher krochen. Er goß sie aus, bat um Verzeihung und kehrte voll schlimmer Ahnungen heim. Er wußte sich nun nicht mehr zu helfen und ließ den Dingen ihren Lauf.
Eines Tages ging der junge Siä auf der Straße. Da trat ein Bote auf ihn zu, der ihm den Auftrag des Froschkönigs überbrachte, dass er dringend gebeten sei, zu ihm zu kommen. Es blieb ihm nichts übrig: er musste dem Boten folgen. Der führte ihn durch ein rotes Tor in prächtige, hohe Gemächer. Im Saale saß ein Greis, der wohl achtzig Jahre alt sein mochte. Siä warf sich huldigend vor ihm nieder. Der Greis hieß ihn aufstehen und wies ihm einen Platz am Tische an. Bald kamen Mägde und Weiber herbeigedrängt, ihn anzuschauen. Da wandte sich der Greis zu ihnen und sprach: »Geht ins Gemach und saget, dass der Bräutigam gekommen!«
Eilends liefen ein paar Mägde weg. Nach einiger Zeit kam eine Alte aus dem inneren Gemach, die führte an der Hand ein Mädchen, wohl sechzehn Jahre alt und unvergleichlich schön. Auf diese wies der Greis und sprach: ,,Dies ist mein zehntes Töchterchen. Ich dachte mir, ihr beide passet wohl zusammen. Aber dein Vater hat wegen der Verschiedenheit der Rasse uns verschmäht. Doch ist die eigene Hochzeit eine Sache, die für das ganze Leben wichtig ist. Zur Hälfte nur vermögen sie die Eltern zu bestimmen. Schließlich kommt das meiste auf dich selber an.«
Siä hielt seine Blicke auf das Mädchen fest geheftet und gewann sie
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