Maerchen aus Malula
den Weg zu den Beduinen. Dort angekommen, wollte der Sultan die Frau sehen. »Ich will bei ihrem Vater um ihre Hand anhalten.«
Alsbald traten die junge Frau und ihr Vater vor den Sultan. »O Herr, du willst die Tochter eines armen Beduinen heiraten?« fragte der alte Mann.
»Ja freilich, laß den Prediger kommen, damit er mir deine Tochter antraut«, befahl der Sultan. Man holte den Prediger, und dieser segnete die Ehe. Als nun der Sultan mit seiner Frau zu Bett gegangen war, sprach er zu ihr: »Schau, die Antwort ist dir bestimmt nur so eingefallen. Im Lande bin ich der Klügste, daher bin ich dein und der Gläubigen oberster Herr. Doch ich will sehen, ob du klüger bist als ich, denn nur dann erkenne ich dich als meine Frau und als Königin des Reiches an.«
Statt, wie es die junge Frau erwartet hatte, seine Kleider auszuziehen und sie zu liebkosen und zu verführen, zog der Sultan sein Schwert aus der Scheide und legte es zwischen sich und dem Mädchen. Dann schenkte er ihr eine Kette seltener Perlen. »Diese Kette soll unser gemeinsamer Sohn tragen, den du aber niemals von mir empfangen wirst.« Danach zog er eine kleine Schachtel aus seiner Gewandtasche und übergab sie ihr. »Diese Schachtel«, sagte er, »enthält zwanzig Goldstücke und zwanzig Juwelen. Sieist versiegelt. Dir gehört dieser Schatz, wenn du die Schachtel öffnen kannst, ohne mein Siegel zu zerstören. Brichst du es auf, so mußt du sterben. Jedes Jahr zu dieser Zeit mußt du meinem Wesir die Schachtel zeigen, damit er das Siegel prüft«, sagte er und fiel kurz darauf in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen reiste er ab.
Einen Monat später wollte der Sultan zur Jagd ausreiten, um sich von seinen Regierungsgeschäften zu erholen. Er nahm seinen Wesir und einige seiner engsten Berater mit. Eine Schar von Treibern mit Trommeln und Jagdhunden hetzte dem Sultan die scheuen Gazellen, Hasen und Steinhühner in die Arme. Doch nicht weit entfernt vom Jagdrevier, wo der Sultan und sein Gefolge dem Wild auflauerten, zog ein Ritter von edler Gestalt die Aufmerksamkeit auf sich. Er ritt auf einem Rappen, überholte die Gazellen und ergriff sie mit der bloßen Hand vom Rücken seines Pferdes aus. Er hob die verängstigten Tiere hoch, küßte sie und ließ sie wieder laufen. Und als der Sultan einen Pfeil auf eine Gazelle abschoß, schwebte der Ritter auf seinem Rappen heran und packte den Pfeil, bevor er die Beute traf. Er schaute sich zum Sultan um, hob den Pfeil hoch und lachte. Der Wesir blickte seinen Herrscher entsetzt an, doch dieser lächelte. »Was für ein großartiger Ritter!« bewunderte er den Unbekannten. »Schneller als der Pfeil, mutiger als ein Löwe, und doch hat er ein edles Herz. Geht hin und sagt dem Ritter, ich möchte ihn heuteabend zu Gast in meinem Zelt haben.« Zwei Sklaven eilten zum nahen Jagdlager des edlen Herrn und teilten ihm den Wunsch ihres Herrschers mit.
Als es Abend wurde, kam der Ritter. Der Sultan ließ ihm Speisen und Getränke vorsetzen, und als der Gast gesättigt war, rief der Sultan: »Ein edler Ritter bist du schon. Du bist der erste, der das Herz einer Gazelle vor meinem Pfeil gerettet hat. Kannst du die Schachfiguren ebensogut vor meinen Angriffen schützen?«
»Das kann ich wohl, denn ich habe bis jetzt noch nie verloren. Dreihundert Siegelringe meiner Gegenspieler habe ich bisher im Schachspiel gewonnen. Meinen Siegelring zu gewinnen ist dagegen der unerfüllte Traum meiner Gegner geblieben. Doch erst sollst du, o Herrscher der Gläubigen, zuschauen, wie ich spiele. Wer ist dein bester Schachspieler?« fragte der Ritter.
»Mein Wesir«, antwortete der Sultan belustigt. Der Wesirlegte seinen Siegelring neben den des Herausforderers auf den kleinen Tisch.
»Spiel gnädig mit unserem edlen Gast. Er soll nicht zu schnell verlieren«, lachte der Sultan, der die Spielkunst seines Wesirs gut kannte. Doch nach genau sieben Zügen erkannte dieser die unrettbare Lage. Mit ruhiger Hand nahm der fremde Ritter das Siegel des Ministers. »Dreihundertundein Träumer«, flüsterte er.
»Nun aber genug der Gnade!« rief der Sultan und legte seinen Siegelring neben das Brett. Doch es dauerte nicht lange, bis auch er verloren hatte. Der Ritter nahm den Ring. »Dreihundertundzwei Träumer«, sprach er leise und gähnte. »Morgen kannst du dich, o Herrscher aller Gläubigen, rächen«, verabschiedete er sich und ritt in die dunkle Nacht hinaus.
Am nächsten Abend wartete der Sultan ungeduldig, bis der Gast kam.
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