Märchensommer (German Edition)
einfach eine Chance? Zeig ihr und deiner Familie das nette Mädchen, das irgendwo ganz tief da drinnen sitzt.“ Ein kleines Grinsen schlich sich auf seine Lippen, als er mit dem Zeigefinger sanft auf die Stelle zwischen meinen Schlüsselbeinen tippte.
Egal, wie groß oder klein dieser nette Teil von mir war, ich würde mich doppelt anstrengen, damit meine Mutter niemals wieder damit in Kontakt kam. Ich schniefte. „Willst du wissen, warum ich damals allen erzählt hab, dass meine Mutter bei einem Autounfall gestorben ist?“
Quinns Blick wich keinen Millimeter von meinem. Er nickte.
„Weil ich mich für die Wahrheit geschämt habe. Dafür, dass meine eigene Mutter einen verfluchten Kinderschänder mir vorzog. Einen Scheißkerl, der mich jede Nacht windelweich geprügelt hat.“ Meine Kehle schnürte sich schmerzlich zu, als ich die Worte aus mir herauspresste. „Irgendwann hab ich die verachtenden Blicke der anderen einfach nicht mehr ertragen. Ihr Geflüster hinter vorgehaltenen Händen darüber, was für ein schreckliches Kind ich nur sein musste, dass mich meine eigene Mutter nicht behalten wollte.“ Mit dem Handrücken wischte ich mir über die Nase und wand mich aus Quinns Umarmung. In der Nähe flatterte eine Motte im Licht der Straßenlaterne. Ich sah ihr einen Moment lang zu, wie sie sich auf das Glas der Lampe setzte und dann wieder wild weiterschwirrte. „Also hab ich einfach ihren Tod erfunden.“
Quinn legte mir sanft die Hände auf die Schultern und drehte mich zurück zu sich. Dann drückte er mich gegen seine Brust. „Ich hatte ja keine Ahnung.“
„Natürlich nicht.“ Meine Stimme ging im Stoff seinen Shirts unter. „ Dein verachtender Blick wäre von allen am schlimmsten gewesen.“
4. Aufs Festland verfrachtet
Meine letzte Nacht im Heim kam mir vor wie die längste in meinem Leben. Nachdem Quinn noch mal ins Pub gelaufen war, um sich von den anderen zu verabschieden, fuhr er mich zurück in das Institut, das ich immer noch „Zuhause“ nannte. Nicht ehe er mir versprochen hatte, dass er am nächsten Morgen zum Flughafen kommen und mir Auf Wiedersehen sagen würde, ließ ich seinen Arm los.
Die Angst vor dem Ungewissen, das in den kommenden sechs Wochen auf mich wartete, lagerte wie eine geballte Faust in meinem Magen und hielt mich davon ab einzuschlafen.
In dem kleinen Fernseher im Gemeinschaftsraum hatte ich schon alle möglichen Arten von emotionalen Abschieden gesehen. Doch nichts davon traf am folgenden Morgen auf mich zu. Mal abgesehen von Quinn wäre Debbie die Einzige gewesen, die ein Lebewohl wert gewesen wäre. Tja, vielleicht … wenn sie mich nicht vor ein paar Tagen an den Teufel verraten und verkauft hätte, womit meine Misere ja erst begonnen hatte.
Nach einer kurzen Dusche im gemeinschaftlichen Bad kehrte ich um 7:45 Uhr zurück in mein kleines Zimmer im dritten Stockwerk. Ich kämmte mein noch feuchtes Haar mit den Fingern zurück und band es zu einem hohen Pferdeschwanz, wofür ich ein altes Gummiband benutzte, das ich in der Hosentasche gefunden hatte, als mir dieses Paar Jeans weitergereicht worden war. Secondhand, Baby. Tja, so lief das im Heim.
Als ich hochblickte, traf mich fast der Schlag, und ich schrie entsetzt auf. Was machte der denn hier? Ich fing mich schnell wieder, richtete mich zu meinen vollen Einsfünfundsechzig auf und blickte Julian, der auf meinem Bett saß und so richtig dämlich schmunzelte, feurig an. Feurig, nicht wie in feurig heiß, sondern mehr wie in: Sieh zu, dass du verschwindest, sonst vernichte ich dich mit meinem Laserstrahlblick.
Er lehnte sich nur nach vorn und stützte sich dabei mit seinen Ellbogen auf die Knie. „Das ist nicht gerade die Begrüßung, die ich mir erhofft hatte“, sagte er enttäuscht.
Erst jetzt fiel mir ein, dass er ja womöglich nicht allein gekommen war, und blickte mich blitzschnell um. Doch der Drache war nirgendwo in Sicht. „Was zum Teufel machst du hier?“
„Dich abholen. Deine Mutter regelt unten gerade deine Entlassung mit der Heimleitung.“ Die Bettfedern gaben ein ominöses Quietschen von sich, als Julian aufstand und sich im Raum umsah.
Plötzlich war es mir peinlich, dass er all die Spinnweben in den oberen Ecken und die verdreckten Stellen an den Wänden bemerkte.
„Na, wenn das kein gemütlicher Ort ist“, murmelte er.
Ich zuckte unbehelligt mit den Schultern, um nicht zu zeigen, wie sehr mich diese Bemerkung doch traf. „Spinnweben, Staub, es ist trotzdem
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