Märchensommer (German Edition)
etwa das Baby, das sie am liebsten lachend im Fluss ertränkt hätte? Ich musste mich schnell wegdrehen und auf etwas anderes konzentrieren, denn sonst hätte ihr ich wohl in diesem Moment das Gebiss in den Hals gerammt.
Als sie und ihr Schoßhündchen von Begleiter sich in Richtung Passkontrollschalter aufmachten, schlurfte ich schwermütig hinterher.
„Julian!“
Wir alle drehten uns noch einmal auf Quinns Ruf hin um. Er zückte ein Paar Silberhandschellen aus seiner Hosentasche und warf sie Julian zu, der sie mit einer Hand auffing. „Du wirst sie vielleicht noch brauchen. Behalt immer den Ausgang im Auge.“
Julians amüsiertes Lachen kratzte mich in dem Moment gar nicht. Selbst Quinns Scherz störte mich nicht. Ehe ich mich versah, rannte ich los in seine Richtung und fiel ihm noch ein letztes Mal um den Hals. Er drückte mich an sich, wie es nur ein bester Freund konnte, und ich wünschte mir, es gäbe eine Möglichkeit, um für immer in dieser sicheren Umarmung zu bleiben.
„Kopf hoch, Kleine. Es ist doch nur für sechs Wochen“, sagte er in mein Ohr. „Und wenn du es dir bis dahin nicht anders überlegt hast, dann komm ich höchstpersönlich nach Frankreich und hol dich zurück nach London.“ Er drückte mir einen sanften Kuss auf die Stirn. Den ersten und letzten. Dann legte er seinen Fingerknöchel unter mein Kinn und hob meinen Kopf hoch. „Jetzt lauf! Sie warten schon auf dich.“
Nun gab es keine Möglichkeit mehr, den Gang in die Löwengrube noch länger aufzuschieben. Ich löste mich aus Quinns Umarmung und schleppte mich mit schweren Schritten zur gläsernen Schiebetür, hinter der meine Mutter und Julian auf mich warteten. Doch alle paar Meter blickte ich noch einmal über meine Schulter zurück, um mich zu vergewissern, dass Quinn auch immer noch dastand. Er winkte mir zum Abschied, dann schob er seine Hände in die Hosentaschen und blieb einfach nur stehen, bis ich um die Ecke bog und er aus meinem Blickfeld verschwand.
Nachdem ich die Passkontrolle hinter mich gebracht hatte, sackte ich auf eine der vielen roten Plastiksitzbänke, die an der Wand entlang befestigt waren. Die Arme vor der Brust verschränkt, biss ich die Zähne zusammen und wartete darauf, dass wir an Bord gehen konnten.
Es dauerte nicht lange, da setzte sich auch Julian neben mich. „Hey“, sagte er.
Ich sagte gar nichts.
„Komm schon. Sechs Wochen sind keine Ewigkeit. Gib dir einen Ruck. Vielleicht gefällt es dir ja sogar in Frankreich.“
„Ja, genau. Ungefähr so wie eine Wurzelbehandlung, oder?“
Julian seufzte schwer und legte dabei seine Hand auf mein Knie. Das überraschte mich derart, dass ich vor lauter Schreck ganz vergaß, mein Bein wegzuziehen. Stattdessen haftete mein Blick starr auf seiner Hand.
Wenige Sekunden später stand er auf und schlenderte zu Charlene rüber, die an der Fensterfront stand und auf die Startbahn hinausblickte. Selbst als Julians Hand schon lange nicht mehr auf meinem Bein lag, blieb ein seltsames Prickeln zurück und breitete sich schnell in meinem ganzen Körper aus. Ich rubbelte über die Stelle an meinem Bein, doch das Gefühl ging nicht weg. Mein Herz klopfte etwas schneller und mir wurde ganz komisch. Irgendwie angenehm. Und warm.
Ob da jetzt Magie im Spiel war oder ich einfach nur den Verstand verlor, konnte ich leider nicht sagen. Wie dem auch sei, Julian hatte es geschafft, mich von meinem Schmerz über den Abschied von meinem einzigen Freund abzulenken, und ich konnte tief Luft holen, ohne dass sich mir der Hals mit unterdrückten Tränen zuschnürte.
Über die Lautsprecher in der Decke forderte eine Stewardess wenig später die Fluggäste zum Boarding auf. Ich erhob mich und folgte Julian und Charlene durch die letzte Ticketkontrolle. Der Lärm der Turbinen wurde mit jedem Schritt die enge Gangway entlang lauter. Als wir über den schmalen Spalt hinweg in das Flugzeug stiegen, blies mir ein kalter Luftzug ins Gesicht. Am Einstieg waren der Kapitän und zwei Stewardessen in roten Uniformen postiert, die uns eine gute Reise wünschten.
„Gute Reise, meine Fresse“, murmelte ich und stapfte in dem engen Flugzeug hinter Charlene her, bis wir unsere Plätze erreichten.
Sie drehte sich mit einem Strahlen im Gesicht zu mir um und fragte: „Möchtest du gerne am Fenster sitzen?“
Julian richtete plötzlich ein paar Worte auf Französisch an sie. Ihr Gesicht verlor das Strahlen, dann rutschte sie in der Dreierbank durch bis zum Fenster. Hatte Julien etwa
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