Märchensommer (German Edition)
lachte. „Sei nicht albern.“
„Was dann?“, bat ich ihn eindringlich. „Sag mir endlich, wie du auf den Balkon gekommen bist.“
Die Lippen gespitzt, holte er durch die Nase tief Luft und sah dann noch einmal kurz zu mir. „Was wäre, wenn ich hochgesprungen wäre und mich dann am Balkon festgeklammert hätte?“
„Was wäre, wenn du endlich aufhören würdest, irgendwelche Ausreden zu erfinden?“
„Und was wäre, wenn ich dir nachher ein Eis spendiere und wir reden nicht mehr darüber?“
„Oh mein Gott, ich kann nicht glauben, dass du dich freikaufen willst!“, platzte es aus mir heraus. Aber Eiscreme klang schon verführerisch.
Obwohl Julian so gut wie gar nichts zugegeben hatte, bekam ich das Gefühl, als wäre ich ihm zumindest einen Schritt nähergekommen. Schließlich ließ er es ganz offen im Raum stehen, dass er auf einem Weg in mein Zimmer gelangt war, den er mir einfach nicht verraten wollte. Irgendwas musste also an meiner Vermutung dran sein. Aber mit Voodoo hatte das wahrscheinlich nichts mehr zu tun. Ich legte mir erschrocken eine Hand auf den Mund. Vielleicht war sein Geheimnis ja noch etwas viel Schlimmeres als das. Und wenn ich es irgendwann doch herausfand, würde ich mir wahrscheinlich vor Angst in die Hose machen.
Julian drehte seinen Kopf zu mir. Seine Lippen waren zusammengepresst, doch in seinen Augen lag ein warmer, hoffnungsvoller Schimmer. Da beschloss ich, dass Julian mir wohl niemals Angst machen könnte, egal was sein Geheimnis war.
„Du vergisst später besser nicht das Eis“, warnte ich ihn. Dann blickte ich wieder aus dem Fenster und presste meine Stirn gegen das Glas, damit er ja mein Grinsen nicht sehen konnte.
Wir waren bereits eine knappe Stunde unterwegs und langsam verschwanden die Hügel rings um uns und das Land wurde flacher. Wo wollte er denn mit mir hin. Ich wurde langsam echt neugierig und zappelte in meinem Sitz herum. „Sind wir bald da?“, fragte ich bereits zum dritten Mal in den letzten zehn Minuten.
„Sei nicht so ungeduldig.“
„Geduld ist was für alte Leute. Ich bin siebzehn, Herrgott!“
„Bist du sicher?“, lachte Julian. „Denn gerade benimmst du dich wie eine Dreijährige.“ Doch wenig später fuhr er an den Straßenrand und stellte den Motor ab.
„Sind wir jetzt endlich da?“
Er verdrehte die Augen. „Ja. Steig aus, kleine Nervensäge.“
Es war unmöglich zu sagen, wohin er mich gebrachte hatte. Wir waren umgeben von einer Reihe hochgewachsenen Fichten, ein paar parkenden Autos und einem Souvenirshop. Die Straße, auf der wir gekommen waren, machte eine Rechtskurve und lief dann unendlich weiter, bis sie am Horizont verschwamm.
Ich stemmte die Hände in die Hüften und beugte mich ein paar Mal nach beiden Seiten, um meinen steifen Rücken aufzulockern. In diesem Moment wehte mir eine frische Brise um die Nase. Sofort verlor ich mich in einem seltsam vertrauten Duft. Wonach roch es hier? Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Dann wusste ich es plötzlich. Es roch nach Julian.
Der unverwechselbare Schrei eines Vogels hallte in der Ferne. Obwohl ich das Geräusch erst einmal im Leben in natura gehört hatte, erkannte ich es sofort wieder. Ich drehte mich um und blickte Julian sprachlos an.
19. Kompliziert beginnt hier
IM SCHATTEN DER Bäume überkam mich eine leichte Gänsehaut. Julian holte gerade den Picknickkorb aus dem Kofferraum und bot mir dann seinen freien Arm an. Gemeinsam spazierten wir einen schmalen Pfad entlang. Seine samtweiche Haut fühlte sich warm unter meinen kalten Fingern an.
Julian lachte leise neben mir.
„Was ist?“, fragte ich.
„Das kitzelt.“
„Was kitzelt?“
Er zuckte mit seinem Arm, und erst da fiel mir auf, dass ich unbewusst angefangen hatte mit meinen Fingerspitzen sanft über die weiche Innenseite seines Oberarms zu streicheln. Ich senkte den Blick, als mir die Röte in die Wangen schoss, und zwang meine Finger dazu, still zu liegen. „‘Tschuldigung“, murmelte ich. Gott sei Dank schien es Julian nicht allzu sehr gestört zu haben, denn er zog seinen Arm nicht weg. Ich hätte ihn nur ungern losgelassen.
Wir folgten dem Pfad für ein paar hundert Meter. Dabei wurde der Schrei der Vögel lauter und ich konnte sie nun auch in der Ferne am Himmel kreisen sehen. „Möwen?“ Mein Blick blieb an dem verschmitzten Lächeln hängen, das gerade in Julians Gesicht auftauchte.
„Der Ort wäre nicht derselbe, ohne sie“, antwortete er. Im nächsten Moment
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