Märchensommer (German Edition)
lichteten sich die Bäume und gaben die Sicht auf einen Abhang vor uns frei.
Es war verrückt, mit meiner Höhenangst einfach drauflos zu laufen, doch drauf gepfiffen, ich musste einfach einen Blick hinunter werfen. Der gewaltige Ozean unter uns rollte in rauschenden Wellen an den Strand und raubte mir mit seiner Schönheit den Atem.
Julian legte mir sanft einen Fingerknöchel unters Kinn und ich schloss meinen weit geöffneten Mund. Ich wandte mich ihm zu und erkannte die Freude über meine Überraschung in seinen Augen.
„Ich werde zuerst den Korb und die Badetücher nach unten bringen, dann komm ich wieder hoch und hol dich ab“, meinte er. „Warte hier. Bin gleich zurück.“
„Beeil dich!“ Ich konnte meine Vorfreude kaum noch im Zaum halten. Julian startete los, den steilen Abhang hinunter. Ich lehnte mich inzwischen gegen einen Baum und sah ihm beim Abstieg zu. Das sah ziemlich gefährlich aus, doch in diesem Moment wäre ich sogar durch brennende Reifen gesprungen, um endlich runter an den Strand zu kommen.
„Bereit?“, fragte er mich, als er leicht außer Atem wieder nach oben kam.
Ich legte meine Hand in seine und wusste dabei vorher schon, dass ich gleich wieder dieses angenehm ruhige Gefühl erfahren würde. Julian enttäuschte mich nicht. Es nahm mir einen Teil der Angst vor dem Abstieg.
Der schlangenartige Weg hinunter war zu schmal, als dass hier zwei Leute nebeneinander hätten gehen können. Julian ging vor, allerdings lief er rückwärts mit Blick zu mir. Eine Hand gab er mir, damit ich mich an ihm festhalten konnte. Mit der anderen stützte er sich selbst an der felsigen Wand neben uns ab.
An einer steilen Stelle verlor ich den Halt und schlittere auf den Sohlen einen Meter hinunter. Gott sei Dank behielt Julian seine Balance, als ich geradewegs in ihn hineinrutschte. „Whoa!“, rief ich. Julian schmunzelte nur. „Hör gefälligst auf zu lachen. Das ist nicht witzig. Und warum mussten wir überhaupt diesen mörderischen Weg wählen? Gibt es hier keine Stufen in der Nähe?“
„Doch, es ist witzig!“ Und natürlich hörte er nicht auf zu lachen. „Was die Stufen angeht: es gibt einen einfacheren Weg zu dem öffentlichen Strand ein paar hundert Meter weiter da hinten. Aber dieser Platz hier ist … Na ja, es kommen kaum Leute her.“
Ich verdrehte die Augen. „Ich frag mich nur, warum.“
Julian kam näher und legte seinen Arm um mich, um mir über ein paar Felsbrocken zu helfen, die im Weg lagen. Etwas panisch umklammerte ich seinen Hals. Dabei presste ich mich fest an ihn und versuchte ein Wimmern zu unterdrücken. Allerdings war die Nähe zu Julian ein netter Ausgleich.
Er ließ mich los, sobald wir es erfolgreich über die Felsen geschafft hatten—und erfolgreich hieß in diesem Fall, dass ich nur zweimal beinahe aus meinem Stiefel geschlüpft, aber nicht gestürzt war und mir auch nicht das Genick gebrochen hatte.
„Warum bindest du dir eigentlich nie die Schnürsenkel? Manchmal wäre das sehr hilfreich, weißt du?“, meinte Julian hinterher und gab mir wieder seine Hand.
„Es geht nicht. Ein Schuhband ist schon völlig durchgescheuert.“ Ich rutschte vorsichtig ein paar Schritte weiter. „Und wie blöd würde ich wohl aussehen, wenn ich mir nur einen Schuh binden würde?“
„Ach, du meinst abgesehen von der Sicherheitsnadel in deinen Jeans?“
Kleine Steine sprangen und rollten den Weg hinunter, als ich abrupt stehen blieb und Julian böse anfunkelte. Doch Julian zwinkerte mir nur zu und ganz von allein bog sich mein Mund zu einem Lächeln.
Wir hatten nicht mehr weit. Er führte mich sicher bis ans Ende des steilen Weges und schließlich sanken meine Stiefel in den weichen, hellen Sand am Strand.
Ich atmete tief durch und der Geruch von Ozean und warmem Wind stieg mir in die Nase.
So vertraut .
Mein Blick wanderte zu Julian. Seine Augen waren geschlossen. Er holte selbst gerade tief Luft, als wäre er endlich zu Hause angekommen. Dann öffnete er die Augen, verengte sie zu Schlitzen und sah mich durch seine langen Wimpern hindurch seitwärts an. „Komm schon. Suchen wir uns einen Platz im Schatten.“
Unter zwei palmenartigen Bäumen breitete Julian unsere Badetücher aus. In der Zwischenzeit zog ich meine Stiefel aus und konnte es gar nicht mehr erwarten, endlich den weichen Sand zwischen meinen Zehen zu spüren. Mit wildem Gelächter lief ich über den Strand zu den Wellen. Doch als ich einen Fuß in das kalte Wasser setzte, sprang ich erschrocken
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