Märchenwald Mörderwald
einem Taubenschlag. Da schwirrten die Gedanken hin und her, und sie konnte nicht fassen, dass dieses Bild hinter dem Fenster der Wahrheit entsprach. Aber es war eine Tatsache. Nur sah Alina nicht mehr so aus wie früher.
So schrecklich blass wirkte sie. Gelbliche Haare stimmten mit der Gesichtshaut überein. Es war Alinas Gesicht und auch Alinas Gestalt, daran gab es nichts zu rütteln, aber wie schlimm hatte sich die junge Frau verändert!
Sie war gealtert. Das Gesicht zeigte einen neutralen und zugleich traurigen Ausdruck. Da das Fenster recht groß war, zeigte sich ihre Gestalt bis zum Bauch. Die Lippen hielt sie geschlossen, und sie schaute mit ihrem traurigen Blick durch die Scheibe in die Küche hinein.
Bei Marisa Benson dauerte es eine Weile, bis sie sich von ihrem Schreck erholt hatte. Auch ihr klopfender Herzschlag musste sich erst beruhigen. Sie durfte jetzt auf keinen Fall in Panik geraten. Wenn sie das tat, war alles vorbei. Deshalb ruhig bleiben, die Nerven behalten und zunächst abwarten, was Alina wollte.
Dass sich Marisa bewegte, wurde ihr kaum bewusst. Sie ging wie eine Schlafwandlerin auf das Fenster zu und blieb davor stehen, weil sie ihrer Tochter so nahe wie möglich sein wollte, aber durch die Scheibe trotzdem getrennt.
Sie lächelte.
Die Botschaft wurde nicht erwidert. Das Gesicht mit der gelblichen Haut blieb so starr wie in Stein gehauen.
Marisa schluckte den Speichel, der leicht bitter schmeckte. Dann klopfte sie gegen die Scheibe.
Eine Reaktion gab es nicht. Alina zuckte nicht mal mit den Wimpern. Sie stand vor dem Fenster wie eine Statue.
Das Fenster musste geöffnet werden. Eine andere Möglichkeit sah Marisa nicht. Sie verspürte keine Angst vor dem Erscheinen der Tochter, abgesehen von einem gewissen Unbehagen. Ihre Hand zitterte schon, als sie nach dem Griff fasste. In den nächsten Sekunden kam es darauf an. Da würden sich Dinge entscheiden.
Wie immer klemmte das Fenster ein wenig, weil sich der Rahmen verzogen hatte, aber sie zerrte es auf und schaute auf ihre Tochter, ohne dass sich etwas zwischen ihnen befand.
Das Haar umhing strohgelb das Gesicht. Auch jetzt blieben die Lippen zusammengedrückt. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass Alina eine ungewöhnliche Kleidung trug. Sie verglich das Kleidungsstück mit einem weiten Umhang aus einer Nichtfarbe. So blass und unscheinbar.
»Alina, bitte.« Sie war froh, den Namen ihrer Tochter aussprechen zu können. Die Barriere hatte sie hinter sich gebracht, und sie wartete jetzt auf eine Reaktion.
Die erfolgte nicht.
Marisa versuchte es ein weiteres Mal, und diesmal sprach sie sogar lauter.
Eigentlich hätte ihre Tochter etwas tun müssen, doch wieder blieb sie stumm.
Der dritte Versuch der Kontaktaufnahme sah anders aus. Da hob Marisa den Arm an. Sie brauchte ihn nicht mal ganz auszustrecken, um Alina zu berühren. Sie wollte sie einfach nur streicheln, doch das schaffte sie nicht. Zwar berührte sie ihre Tochter, aber die Hand fand keinen festen Widerstand. Sie glitt in den Körper hinein und wäre auch am Rücken wieder zum Vorschein gekommen, wenn sie die Hand nicht wieder sehr schnell zurückgezogen hätte.
Ein heftiges Zittern überfiel sie. Zugleich breitete sich eine Gänsehaut auf ihrem Körper aus. Sie hielt den Mund offen, um nach Luft zu schnappen, aber sie vergaß, Atem zu holen. Über das Phänomen konnte sie nur staunen und den Kopf schütteln. Was da passiert war, war ihr unerklärlich. Das war einfach nur schrecklich und furchtbar.
Alina war...
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, weil etwas anderes passierte.
Alina zog sich zurück. Sie glitt lautlos nach hinten, und Marisa Benson traf keinerlei Anstalten, sie aufzuhalten. Sie musste das Phänomen ziehen lassen und blieb selbst starr im Ausschnitt des Fensters stehen.
Ihre Tochter entschwand.
Sie glitt zurück.
Ihr Körper blieb zwar bestehen, aber er schien sich aufzulösen, je weiter er sich in Richtung Wald bewegte.
Kein Laut. Kein Wort des Abschieds. Alina glitt ihrer eigenen und neuen Welt zu, in der andere Menschen nichts zu suchen hatten, und sehr bald schon sah es so aus, als hätte das Licht der Morgensonne sie aufgelöst.
Marisa Benson aber blieb nach wie vor am geöffneten Fenster stehen und schaute nach draußen. Es war ihr unmöglich, sich zu bewegen. Sie sagte auch nichts. Sie dachte nicht mal nach. Sie war völlig in sich versunken, und erst einige Minuten später löste sich ihre Starre. Sie bemerkte den kühlen Wind, der gegen sie
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