Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
allem, was mir zu Ohren kam, hatten diese Russen genau die Art von Lebenslust, die mir behagte. Reinbeißen, alles einsaugen, kräftig zulangen, etwas schätzen, weil es sich gut anfühlt. Mir gefielen die Dinge, die Vater mitbrachte, die geflochtenen Strohkästchen und die handgeschnitzten hölzernen Sandalen mit farbigem Riemen.
Ich wunderte mich oft über meinen Vater, er schien in Russland Sachen zu lernen, die er zu Hause nicht angefasst hätte. Niemals hätte er hier Tomaten gezüchtet, jetzt versuchte er zusammen mit seinem Freiburger Kameraden, vor der Baracke am Polarkreis Tomaten großzukriegen. Einmal, im Winter, zu Christels Taufe, brachte er aus Russland eine steifgefrorene Gans mit, «Jockele», die er selbst gemästet hatte. Sie roch etwas merkwürdig, fanden wir, vermutlich hatte sie die lange Reise doch nicht so gut überstanden. Obwohl der russische Winter Tiefkühltemperaturen aufwies und Vater sie auf der Eisenbahnfahrt an einer Schnur vor dem Fenster befestigt hatte. Wir befürchteten ernstlich, eine Magenverstimmung zu bekommen, doch es passierte nichts, wir aßen eine ganze Woche an Vaters «Jockele».
Vater ist zu Hause! In dieser Zeit hatten wir meist reichlich zu essen, man konnte sogar Märkchen sparen. Inzwischen gab es nämlich die meisten Lebensmittel nur auf Zuweisung, Fettmarken, Fleischmarken, Brotmarken, Milchmarken, kleine, mit Mengenangaben versehene Zettel, die man von einem großen Blatt abschneiden musste.
An einem dieser Wintertage Ende 1942 nahm Vater uns, das heißt Mutter, Peter und mich, in sein Wirtschäftle mit. Normalerweise ging er allein «einen zwitschern». Die kleine Speisewirtschaft in der Konviktstraße, Ecke Münzgasse hieß «Wolfshöhle». Was wir gegessen haben, weiß ich nicht mehr, mir ist nur in Erinnerung: Vater hat unentwegt vor sich hin gemeckert, geschimpft über die Politik und den Krieg. Und er ließ sich nicht bremsen von Mutter, zuletzt war sie so verzweifelt, dass sie weinte.
«Du redest dich um Kopf und Kragen, Johann. Hör auf, sonst kommst du vors Militärgericht.»
Daraufhin hat mein Vater den Mund gehalten und ist wütend mit mir fortgegangen.
«Ich sag es trotzdem! Dieser Scheißkerl!» Er konnte einfach nicht aufhören.
«Warum hat Mutter solche Angst?»
«Sie hat schon recht. Es ist schlimm, dass man nichts mehr sagen darf. Aber sonst kommt man ja nicht mehr heim.»
Vater schlurfte so vor sich hin, stieß mehrfach zornig mit dem Fuß gegen eine Laterne. Jeder Ruck seines Körpers ging durch meinen, er ließ, während er so wütete, meine Hand nicht los. Ich wollte ihn gerne trösten und drückte mich an ihn.
«Vater, sei nicht traurig. Gell, ich bin dein Blindgänger.»
Er kam einfach so raus, dieser Satz. Ohne ein Wort hat Vater mir über die Haare gestrichen, und ich hab das Gefühl gehabt, jetzt ist er noch trauriger.
Was ich damit sagen wollte? Ich weiß es nicht, so genau mir ansonsten im Gedächtnis geblieben ist, was in dieser halben Stunde geschah. Was ich ausdrücken wollte, muss mit meinen Augen zu tun gehabt haben, mit etwas Traurigem, das sich in dem merkwürdigen dreisilbigen Wort aus der Abteilung Krieg verbarg: Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich selbst das Wort «blind» benutzt habe.
Danach musste Vater ins Skilager zurück. Nach seinem Verschwinden wurde in unserem Haus noch mehr geflüstert, und draußen wurde es immer lauter – nur noch kurze Zeit, und die Sirenen würden Freiburg beherrschen und den schönen Klang der Glocken verdrängen. An vielen Ecken der Stadt waren große schwarze Bilder aufgetaucht. Darauf war eine schräge, lauschende Männergestalt gemalt, sehr dunkel, mit rundem Hut, die bedeutete: «Feind hört mit!» Wer nun genau der Feind sei, ob der Engländer, der Franzos, der Russ, traute ich mich nicht zu fragen. Als ich es dann doch einmal tat, sagte jemand: «Ist doch egal, keiner traut dem anderen.» Dieser schwarze Mann war mir zutiefst unsympathisch, ich habe ihn geradezu gehasst. Oft, wenn ich allein war, bin ich zu dem Bild, das an der Hauswand nahebei klebte, hab mir irgendein Wurfgeschoss gesucht und hab den bösen Kerl beschmissen mit einem Stein oder einem Klumpen Erde. Oder mit Rossbollen – der Krieg brachte ja Pferde in die Stadt, so viele hatten wir nie, frische Rossbollen waren reichlich. Aufgelesen! Und immer feste drauf!
War ich selbst womöglich der Feind? Ich lauschte ja überall. Je leiser die Erwachsenen sprachen, desto mehr spitzte ich die Ohren. Es schien,
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