Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
mitgeteilt, er habe das Zigeunerleben satt. «Schluss aus!» In Bälde werde er heiraten.
«Fräulein Eglin, schnell. Er ist da!» Überraschend stand Konrad an einem Frühlingstag kurz vor Dienstschluss vor meinem Büro in der Oberpostdirektion. «Magdalena, ich war in Tonberg. Hör zu.» Er sprudelte nur so, total wirres Zeug, «da oben gibt es Weidezäune, das ist gut», umhalste mich dabei.
Es dauerte den ganzen Abend und die halbe Nacht, bis ich verstanden hatte, warum wir beide in den Schwarzwald gehen müssen. Ein glücklicher Zufall: Konrad hatte im Bummelzug einen alten Kumpel aus Konstanzer Internatszeiten getroffen, einen abtrünnigen Theologen, der Lehrer geworden und gerade von seiner ersten festen Stelle ausgebüxt war, weil er nicht klarkam «da oben». Nur wegen der «großen Wohnung» tue es ihm leid fortzugehen, erzählte er. Bei dem Stichwort war Konrad aufgeschreckt. Sofort nach Schulschluss war er von Steinen mit dem Fahrrad über Serpentinensträßchen nach Tonberg gefahren. Fast hätte er es nicht gefunden, «da war kein Mensch, nicht mal Vieh». Schließlich stand er vor dem Schulhaus – ein riesiger alter Kasten mit einem Sockel aus Feldstein, und niemand da. Schwarzwaldhäuser links und rechts, acht und nicht mehr, jedes mit einem Misthaufen, und keine einzige Straßenlaterne, Dorf konnte man das kaum nennen. Hier und da noch dreckige Schneereste.
In fünf Minuten war alles besichtigt, ihn interessierte nur noch eines: Gibt es Weidezäune oder nicht? «Verstehst du, Magdalena?» Nein, wie sollte ich. Wenn es keine Zäune gibt, erklärte mir Konrad, braucht man Hütebuben, die auf das Vieh achtgeben, und die sind der Albtraum jedes Dorfschullehrers. Wilde, zur Gewalttätigkeit neigende Burschen, die mal zur Schule kämen und mal nicht. Nach dem Krieg hätten die Bauern zunächst arme Kinder aus dem industrialisierten Wiesental beschäftigt, als Hütebuben hatten sie wenigstens zu essen. Seit den fünfziger Jahren schicke man Waisenkinder aus Norddeutschland oder Berlin auf die Wiesen, verwahrloste, traurige Zwölfjährige, manche noch jünger, die nicht gehorchten, auch weil sie den örtlichen Dialekt nicht verstünden.
Nachdem Konrad um den Ort herum gepirscht war, zufrieden, dass überall Weidezäune standen, war für ihn die Sache klar.
«Ist Tonberg frei?», fragte er anderntags telefonisch beim Kreisschulamt an.
«Ja. Nach Tonberg will keiner hin.»
«Gut. Ich muss noch meine Braut fragen.»
Diese Nacht in meiner Freiburger Mansarde ist so lebendig, als wäre es gestern gewesen. Konrads Kopf liegt an meiner rechten Schulter. Er ist älter geworden, denke ich, viel älter als noch vor Wochen. «Die Winter sind hart, Magdalena, und sie sind lang.» Nicht so wichtig! Punkt für Punkt gehen wir gemeinsam durch. Ist Tonberg weit genug entfernt von Freiburg und Herrenschwand? Ja, weit genug, rechnen wir aus, etwa vierzig Kilometer in beide Richtungen, das ist – damals noch – ausreichend, unsere Familien können nicht einfach am Wochenende hereinschneien. Außerdem würde Konrad Alleinlehrer sein, wir wären ganz unter uns. Keine Kirche im Dorf, auch das spricht für Tonberg, der nächste Pfarrer ist vier Kilometer entfernt, der Bürgermeister ebenso und die Schulbehörde noch weiter. Hier, auf fast tausend Metern Höhe, wird sich selbst der eifrigste Schulrat nicht öfter als einmal im Jahr blicken lassen.
Andererseits werde ich da oben keine Arbeit finden, «da ist kein Büro, Magdalena, nirgends». In diesem Jahr ohne Konrad habe ich darüber nachgegrübelt, ob ich ohne Beruf leben könnte. Sosehr ich ihn hasse, er ernährt mich, und ein wenig stolz, auf eigenen Füßen zu stehen, bin ich auch.
Wie ungewöhnlich das ist, was wir im Begriff sind zu tun, wird uns erst viel, viel später klar werden. Alle strömen in die Stadt, und wir brechen auf in den Hinterwald. Die moderne Welt, in der man herumsaust und immer gewinnen muss – ich kann es nicht, Konrad will es nicht. Im ersten Tonberger Jahr wird er ein Angebot ausschlagen, Konrektor in einem netten, komfortablen Städtchen zu werden. «Dort bin i nit frei.» Ohne zu zögern, lehnt er ab. Und ich immer noch wildes Huhn, ich will Ehefrau werden, ganz einfach Ehefrau, in ewiger Treue fest. So bin ich einem anderen Menschen nützlich, denke ich, der sonst vielleicht vor die Hunde gehen würde.
Im Frühsommer 1959 fing Konrad in Tonberg an. «Stell dir vor, Magdalena, die Tapeten im Wohnzimmer sind von 1914», schrieb er.
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