Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
aufgebrochen ist, um dort das Leben der Sträflinge zu studieren. Kreuz und quer über die Pazifikinsel, vom Sommer bis zum Wintereinbruch, eine Riesenstrapaze, dabei litt er damals schon an der Schwindsucht. Jahre später würde sie ihn nach Deutschland führen, in Badenweiler hat er Genesung gesucht – und ist gestorben. Es hat mir immer geschmeichelt, dass sich der verehrte Autor ein Weilchen hier in der Nähe aufhielt, wo ich heute zu Hause bin.
Ich höre Russland. Das Dorf guckt Südafrika. Sobald ich die Kopfhörer ablege, tobt die Fußball-Weltmeisterschaft aus sämtlichen Himmelsrichtungen. Bei diesem glorreichen Wetter sitzt alles bei geöffnetem Fenster vor dem Fernseher. Hier und da ein kindliches Blöken, ein leises Trommeln. Und plötzlich ein Getöse, von links, von rechts, vom alten Rathaus her, die Vuvuzelas, «booooooboooobooo». Es scheint gut zu laufen für Deutschland. Zur Halbzeit öffnen sich die Türen, «boooboboooo», man könnte meinen, hundert Elefanten traben durchs Dorf. Dann wieder gespannte Ruhe, «Huuuu», ein kurzes, kollektives Seufzen, offenbar hat die Gegenseite ein Tor geschossen. Neulich hat jemand «Ghana olé» geschrien, das hat mich gefreut, ein afrikanisches Land, das mithält.
Kopfhörer auf, ab in die kühle Taiga. «Magdalena mit ihrem Russlandfimmel», der Spott verfolgt mich seit meiner Schulzeit. In diesem Juli brennen in der Region Moskau die Wälder, berichten sie im Radio. Die ungewöhnliche, langanhaltende Hitze hat die Torfmoore entfacht. Über der Millionenstadt soll eine Glocke aus Rauch hängen, Wolkenkratzer seien im Dunst nicht mehr zu sehen und der Sauerstoffgehalt der Luft gefährlich gesunken. «Es ist, als ob Moskau ins Hochgebirge umgezogen wäre», so der Häuptling des russischen Wetterdienstes. Und die Menschen sind trotzdem ganz ruhig. Man muss staunen, wie gelassen die Russen Katastrophen und ihre durchweg schlechten Herrscher aushalten, mit einer Schafsgeduld.
Auch bei uns wird die Hitze jetzt unerträglich, 35 Grad im Schatten sind es und mehr. Sogar Konrad, der nicht weiß, was faul sein ist, kann aufhören, von zwei bis um vier macht er Siesta. In diesen Tagen trinkt er keinen Wein oder nur hochverdünnten. Am liebsten würde ich jetzt keine Kleider mehr tragen. Und vegetieren wie eine Pflanze, tatenlos und still. Eine verlockende Vorstellung – Konrad neben mir, wir zwei als Pflanzen, am schattigen Hang drüben, wo sich gerade der Holunder bis fast auf die Wiese neigt.
«Konrad!» Ich rufe ihn viel. «Gleich, Magdalena», ruft er zurück, oder: «Warte doch!» Fröhlich, knurrig, je nachdem. Er kann auch gar nicht erscheinen, weil er es nicht hört oder mein Rufen gleich wieder vergisst. Er ist kein Engel der Geduld, wahrhaftig nicht, aber treu. Das «rufende Ehepaar» nennen uns einige im Dorf, die noch nicht lange hier leben und unseren Namen nicht kennen.
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Frau Lehrer!
Wir haben die Tür hinter uns geschlossen und uns lange und innig umarmt. «Jetzt sind wir daheim!» Sagte ich es? Nein, Konrad. Er hat Tee gekocht. Wir haben die Verlegenheit ausgefüllt, indem wir Geschenke ausgepackt haben, alles Mögliche getan, um das, was jetzt kommen würde, hinauszuzögern. Konrad führte mich durch unser Reich, das eine einzige Baustelle war, und zeigte mir jeden Nagel, den er seit meinem letzten Besuch eingeschlagen hatte. Frische Handtücher mussten ins Bad gehängt werden. Kleider aufhängen, Füße eincremen, sie taten schrecklich weh nach der Steherei in den Ballerina-Schühchen.
In der Hochzeitsnacht gingen wir sehr behutsam miteinander um. «Komm, noch ein wenig mehr.» Nach den vielen Jahren verhaltener Zärtlichkeit haben wir plötzlich tun dürfen, wozu der Mensch von Natur aus geschaffen ist. Keiner wusste genau, wie es geht. Immer wieder aufs Neue ist die Lust aufgesprungen und verwandelte sich in unendliche Mühe. Du lieber Gott, war das harte Arbeit – gegen Morgen schliefen wir erschöpft ein.
In der zweiten Nacht wurden wir gestört, draußen polterte es. Zwischendurch leises Gekicher, vor dem Haus schwätzten Leute. Zuerst verließ Konrad das Bett, vom Fenster beobachtete er, wie sie einen Tannenkranz an die Tür hängten: Die Dorfjugend gratulierte zur Hochzeit! Ein Bäumle mit Papierblumen stellten sie auf, und einen großen Korb dazu, gefüllt mit Kartoffeln, Gelben Rüben, Lauch und einem Krautkopf. Wir waren sehr gerührt. Kurz entschlossen schleppte ich mein Tonband ans offene Fenster – na,
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