Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Weidezaun.
«Musst nicht so rumrutschen, Monika.»
«I rutsch nit, i fick.»
«Was ist denn das für ein Wort?»
«I fick. Und des isch a Hag.» Sie klopfte auf den Zaun, auf dem sie hockte.
«Ficken» ist Rutschen, und «Hag» ist Zaun – das waren die ersten Wörter, die ich mir merkte. Als Mensch, der aufs Hören angewiesen ist, musste ich unbedingt schnell den Dialekt verstehen.
Konrad unterrichtete. Er war ein sehr ernster, verantwortungsvoller Lehrer. Oben in der Wohnung konnte ich, wenn nicht gerade das Radio lief, beinahe jedes Wort verstehen, so laut und deutlich sprach er: «Jetzt sin emol still!» Alle dreißig Schüler waren in diesem einen großen Raum, er musste parallel Unterricht für acht Jahrgänge geben, was ziemlich anstrengend war.
Mittags hörte ich die Kinder die Straße runterrennen. Viele brauchten vierzig Minuten bis nach Hause, zu ihren Weilern und Einödhöfen, manche noch länger. Bei Schulschluss schlug zuerst die hintere Tür, die an der Bubentoilette, zu, danach schloss Konrad die Vordertür ab, ein paar Augenblicke später stapfte er die Treppe hoch. Dann musste das Essen fertig sein! Jeden Tag hab ich gefragt: «War es schön? Waren sie zahm?» Und er erzählte. «Die Lina war heute wieder müd.» Lina war zehn, wusste ich, eine von denen, die morgens vor der Schule immer schon zwei, drei Kühe melken mussten. «Und das Bärbele?» – «Alles gutgegangen.» Das war ein dickes Mädchen, das alle zwei Tage einen ausgewachsenen epileptischen Anfall bekam. Sofort waren Kinder um sie herum, sie waren auf das getrimmt, was sie zu tun hatten. Eines nahm ihr den Federhalter aus der Hand, damit sie sich nicht verletzte, zwei ältere, kräftige Mädchen hievten sie vom Stuhl und schleppten sie nach draußen, legten sie dort vorsichtig hin und hielten sie fest, bis alles vorüber war.
«Und Klausi?» Bald kannte ich sie alle. Arme Kinder meistens, deren Eltern wenig Zeit hatten, sich um sie zu kümmern, von kleinen Höfen, Nebenerwerbsbetrieben mit vier bis acht Kühen. Die Landwirtschaft machten Großeltern und Kinder, die Väter, manchmal auch die Mütter, gingen ins Wiesental zum Arbeiten, in die Spinnereien.
Auch ich wurde immer mehr Teil der Schule. Mal war ein Mädchen auf dem Schulweg beim Sprung über den Bach hineingefallen. «Magdalena, ich schick dir ne nasse Ratte rauf. Guck, dass du die Ursula bis zur großen Pause wieder trocken kriegst.» Also pellte ich die Ursula aus ihren Kleidern und einer schrecklich verpissten Hose und wickelte sie in ein Biberbetttuch. Bettflasche heiß gemacht, Tee gekocht. Viele Dinge, was eben anfiel, die Kinder gehörten praktisch zum Haushalt. Wenn eines von einem Insekt gestochen wurde oder eines hat heulen müssen. «Was ist denn los?» – «De Lehrer het mi am Ohr zupft.» – «Hast du mal wieder in der Nase gebohrt?» Trösten war eine meiner wichtigsten Aufgaben, auch weil Konrad manches Mal etwas ungeschlacht und grob war. Gehauen hat er nie, körperliche Züchtigung wie Tatzen und Eins-auf-den-Hintern, Hosenspannetz, damals noch durchaus üblich auf den Dörfern, verabscheute er. Aber am Ohr ziehen, eine leichte Kopfnuss, ein Schubs, das kam im Eifer des Gefechts schon mal vor.
Vor allem die Erstklässler hab ich unter meine Fittiche genommen. Sie waren ungeheuer scheu. Mancher Bub weinte bitterlich, wenn niemand vom Nachbarhof neben ihm gesessen ist. Wochenlang haben viele kein einziges Wort geschwätzt. Ohnehin hat man in den Bergen kaum geredet – nur das Nötigste, was für die Arbeit unerlässlich war, hat man sich zugerufen. Jetzt sollten diese kleinen Buben und Mädle zuhören und dem Fremden da vorne auf dem Katheder antworten, und noch dabei still sitzen. Still sitzen konnten sie am allerwenigsten. Mit Konrads Einverständnis hab ich sie morgens manchmal eine halbe Stunde beiseitegenommen und mit ihnen gespielt. Sie haben nicht einmal gewusst, was Spielen ist. Puppenspielen, Kasperle, einfach einem Ball hinterherrennen, so etwas tat man auf den Höfen nicht. Angefangen hab ich mit Ringelreihen und Singen, später, nachdem wir vom Caritasverband hundert Mark ergattert hatten, gab es Malzeug, eine ganze Kiste mit Kegelspielen, Wurfringen und bunten Klötzchen. Das war der Anfang unseres Weingartner’schen Teams.
Konrad hat bald gemerkt, dass man Spielen auch im Unterricht einsetzen kann, beim Klausi hat er es zuerst probiert. Wir sprechen heute noch manchmal von dem kleinen, dunkelhaarigen Jungen mit dem Sprachfehler,
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