Maggie O'Dell 03 - Schwarze Seele
etwa zwölf Stunden. Ich muss noch ein paar Tests machen. Außerdem muss ich beim Wetterdienst erfragen, wie kalt es letzte Nacht war.“
„Zwölf Stunden?“ Tully wusste genügend über den Zustand von Leichen, um selbst einzuschätzen, dass der Mord vor nicht allzu langer Zeit passiert war. Allerdings wäre er nicht von einem halben Tag ausgegangen. Plötzlich wurde ihm flau in der Magengrube. „Das hieße ja, gestern Abend. Vielleicht irgendwann zwischen acht und Mitternacht?“
„Das ist eine gute Schätzung.“ Wenhoff hievte sich mühsam hoch und winkte einige Uniformierte heran. „Ihr könnt sie in den Leichensack packen, Jungs, aber sie ist steif wie ein Brett. Seid vorsichtig, dass ihr nichts abbrecht.“
Tully ging aus dem Weg. Er wollte nicht mit ansehen, wie die Leiche aus der Sitzposition in den schwarzen Nylonsack verpackt wurde. Er schaute über die Lichtung in die Ferne und sah Touristen an der Vietnamwand entlangwandern. Busse schlängelten sich um die Polizeiblockade, um am FDR-Memorial vorbei zum Lincoln-Memorial zu gelangen. Emma war gestern Abend mit ihren Freundinnen hier gewesen und dieselben Wege gegangen. Hatte der Killer auch sie beobachtet, während er sein Opfer aussuchte? Das Opfer sah nicht viel älter aus als Emma.
„Tully.“ O’Dell stand plötzlich neben ihm, und er erschrak. „Ich gehe jetzt rüber zum Leichenschauhaus. Stan macht die Autopsie heute noch. Möchten Sie dazukommen, oder soll ich Ihnen morgen die Ergebnisse mitteilen?“
Er hörte nur halb hin.
„Tully? Alles in Ordnung mit Ihnen?“
„Klar. Alles in Ordnung.“ Er rieb sich mit einer Hand übers Gesicht, um die Beklommenheit zu verbergen, die ihn erfasst hatte. „Ich komme dazu.“
Da sie nicht wegging, sondern stehen blieb und ihn prüfend ansah, versuchte er sie zu überzeugen. Und wie ginge das besser, als das Thema zu wechseln. „Was ist da zwischen Ihnen und Racine? Ich werde das Gefühl nicht los, da gibt es eine Vorgeschichte.“
Sie wandte den Blick ab, und Tully fühlte sich in seiner Vermutung bestätigt. Doch Maggie sagte nur: „Ich mag sie einfach nicht.“
„Wie kommt das?“
„Brauche ich einen Grund?“
„Zugegeben, ich kenne Sie nicht besonders gut, aber ja, ich würde sagen, Sie sind der Typ Mensch, der einen Grund braucht, jemanden nicht zu mögen.“
„Sie haben Recht“, bestätigte sie und fügte hinzu: „Sie kennen mich nicht besonders gut.“ Sie wandte sich zum Gehen und sagte über die Schulter hinweg: „Wir sehen uns im Leichenschauhaus, okay?“ Sie blickte nicht zurück, winkte aber ab. Eine Geste, die besagte, dass die Angelegenheit erledigt und jede Unterhaltung über sie und Julia Racine überflüssig war.
Als Tully das Team einschließlich der Männer mit dem Leichensack zusammenpacken sah, ging er zum Sims und blickte über den Potomac Park. Ihm war immer noch mulmig bei dem Gedanken, dass Emma hier gewesen war. Ein heftiger Donner rollte über den Himmel - als hätte er aus Respekt bis jetzt gewartet -, und der Himmel öffnete seine Schleusen.
Tully blieb stehen und beobachtete, wie die Touristen unten Schutz suchten oder ihre Schirme aufspringen ließen. Der Regen tat gut, und er hielt ihm das Gesicht entgegen. Doch der Gedanke, dass dieses Opfer seine Tochter hätte sein können, ließ ihn nicht mehr los.
24. KAPITEL
Maggie schüttelte ihre Lederpumps ab und zog Plastikschuhe über die Strümpfe. Die Pumps hatte sie wegen des Frühstücks mit ihrer Mutter im Crystal City Hyatt angezogen. Hätte sie gewusst, dass sie arbeiten musste, hätte sie darauf verzichtet. Stan sah ihr schweigend zu. Vielleicht wollte er sein Glück nicht zu sehr strapazieren. Immerhin trug sie unaufgefordert ihre Schutzbrille. Für gewöhnlich schob sie die auf die Haare hinauf. Aber Stans Verhalten ihr gegenüber war ohnehin verändert. Er wirkte ruhiger und hatte noch kein einziges Mal missbilligend gebrummt oder schwer geseufzt. Jedenfalls noch nicht. War er besorgt, sie könnte wieder schlappmachen?
Sie musste zugeben, dass sie sich nicht gerade wohl dabei fühlte, so schnell wieder hier zu sein. Zu leicht kam die Erinnerung an Delaneys graue Totenmaske hoch. Aber das passierte in letzter Zeit oft und an allen möglichen Orten. Ein weiterer Aufenthalt in der Leichenhalle machte es wahrscheinlich auch nicht schlimmer. Zumindest redete sie sich das ein. Sie musste aufhören, an Delaney zu denken und an die vielen Erinnerungen, die sein Tod heraufbeschwor. Erinnerungen an
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