Maggie O'Dell 03 - Schwarze Seele
ihren Vater hinterließen ohnehin nur Gefühle von Leere und Einsamkeit.
Bei dem Gedanken wurde ihr bewusst, dass sie mit der bevorstehenden Scheidung von Greg auch die familiären Bindungen verlor, die sie aufzubauen versucht hatte. Aber hatte sie das wirklich? Gwen erzählte ihr ständig, dass sie auch Menschen, die ihr wohl gesonnen waren, auf Distanz hielt. Steckte da ihr eigentliches Problem mit Greg? Hatte sie auch ihn auf Distanz gehalten und ihre Empfindlichkeiten und Schwächen vor ihm verborgen? Vielleicht hatte ihre Mutter Recht. Vielleicht war sie ja wirklich schuld am Scheitern ihrer Ehe. Sie fröstelte leicht. Was für eine Vorstellung, dass ihre Mutter mit irgendetwas Recht haben könnte!
Sie ging zu Stan. Er hatte die äußere Untersuchung des Mädchenkörpers bereits abgeschlossen und nahm die Maße. Sie half ihm bei den niederen Arbeiten wie Fixierung der Leiche und dem Abnehmen von Körperflüssigkeiten. Es tat gut, sich auf etwas Konkretes zu konzentrieren, auf Vertrautes, Konstruktives. Sie hatte oft genug mit Stan gearbeitet, um zu wissen, welche Aufgaben sie übernehmen durfte und bei welchen sie zurückstehen und zuschauen musste.
Vorsichtig entfernte sie die Papiertüten von den Händen des Mädchens und begann die Fingernägel sauber zu kratzen. Es gab jede Menge Material, was gewöhnlich bedeutete, dass man die DNA des Täters isolieren konnten. Beim Blick auf den Hals des Mädchens sah Maggie zwischen mehreren blutigen, tiefen Strangulationsstriemen und massiven Prellungen jedoch mindestens ein Dutzend horizontaler halbmondförmiger Abschürfungen. Horizontale Abdrücke ließen darauf schließen, dass viel von der Haut unter den Fingernägeln dem Opfer selbst gehörte, weil sie nach dem Strangulationsgegenstand gegriffen hatte.
Stan machte so viele Polaroidaufnahmen, dass die Korkwand über dem großen Spülbecken voll wurde. Dann entfernte er seine Handschuhe und schrubbte sich zum dritten Mal, seit sie begonnen hatten, die Hände, nahm Lotion, massierte sie ein und zog ein neues Paar Handschuhe über. Maggie war an dieses seltsame Ritual gewöhnt, doch gelegentlich machte es ihr das Blut an den eigenen Handschuhen bewusst. So wie heute.
„Tut mir Leid, dass ich zu spät komme“, sagte Agent Tully von der Tür her, wo er zögernd stehen geblieben war. Er war tropfnass, sogar der Rand seiner Baseballkappe war durchweicht. Er nahm die Kappe ab und strich sich die Feuchtigkeit aus dem stoppelkurzen Haar. Zuerst glaubte Maggie, er zögere, um den Boden nicht nass zu machen. Doch das war Unsinn, denn der Boden war aus Beton und an strategisch wichtigen Punkten mit Abflüssen versehen, die mehr aufnahmen als ein paar Regentropfen. Dann merkte sie jedoch, dass er auf jemanden wartete. Detective Racine erschien hinter ihm und sah zu trocken und frisch aus, um vom selben Ort zu kommen wie er.
„Sind jetzt alle da?“ fragte Stan mit dem bekannten Brummen, das er bisher unterdrückt hatte.
„Alle da und bereit“, zwitscherte Racine und rieb sich die Hände, als wären sie zu einem Spiel zusammengekommen.
Maggie hatte nicht bedacht, dass Racine an der Autopsie teilnehmen würde. Aber da es ihr Fall war, wollte sie natürlich dabei sein. Bei ihrer letzten Zusammenarbeit war Racine noch in der Abteilung für Sexualverbrechen gewesen. Deshalb war es fraglich, ob sie schon mal an Autopsien teilgenommen hatte. Plötzlich konnte Maggie es kaum erwarten, mit der Arbeit zu beginnen.
„Überschuhe, Masken, alles im Wäscheschrank“, sagte Stan und deutete darauf. „Keiner sieht zu, ohne ordentliche Schutzkleidung zu tragen. Kapiert?“
„Kein Problem.“ Racine schüttelte ihre lederne Bomberjacke ab und ging zum Schrank.
Tully folgte zögernd und ließ sich mehr Zeit als nötig, Windjacke und Kappe über einem der Abflüsse auszuwringen. Mehrfach warf er einen Seitenblick zum Leichnam des Mädchens auf dem Aluminiumtisch. Maggie erkannte plötzlich ihren Irrtum. Nicht Racine, sondern möglicherweise Tully war der Neuling bei der Autopsie.
Ehe er nach Quantico gekommen war, hatte er fünf oder sechs Jahre lang aus dem Außenbüro in Cleveland kriminalistische Analysen abgegeben, die auf Grund zeitaufwändiger Studien von Fotos, digital gescannten Bildern und Videos erstellt wurden. Er hatte ihr mal gestanden, das er bis zum Albert-Stucky-Fall nie an einem Tatort gewesen war. Somit war das hier möglicherweise auch ein Novum für ihn. Verdammt! Und sie hatte sich so gewünscht, dass es
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