Maggie O'Dell 03 - Schwarze Seele
einen schwarzen hoch geschlossenen Pullover und eine dunkle, frisch gebügelte Hose.
Beim Klang der Stimme erschrak Justin, sprang unwillkürlich auf und fragte sich, ob er sich jetzt auf den Boden setzen sollte. Hatte Alice ihm nicht erzählt, Vaters Kopf müsste alle anderen stets überragen? Oder galt das nicht, wenn kein anderer dabei war? Scheiße! Er hätte erst mit Alice sprechen sollen, ehe er herkam.
„Setz dich“, sagte Vater und deutete auf den Sessel. „Ich wollte schon seit Samstagnacht mit dir reden.“ Er setzte sich in den Ledersessel Justin gegenüber.
Der beobachtete sein Gesicht und suchte nach Anzeichen von Zorn. Justin rechnete mit jener strengen Miene, die Vater perfektioniert hatte, bei der Männer zu Stein und Frauen vermutlich steril wurden. Die Miene war jedoch ernst, aber ruhig und freundlich.
„Vermutlich bist du irritiert über das, was du glaubst Samstagnacht auf der Rückfahrt gesehen zu haben.“
Ach du Schande! Der wollte das tatsächlich wieder aufrühren. Justin rückte sich unbehaglich zurecht, sodass das Leder unter ihm knirschte. „Ich war irgendwie halb eingeschlafen.“
„Ja, das dachte ich mir schon. Deshalb glaube ich, dass du das Gesehene missdeutet hast.“ Vater lehnte sich zurück und legte den linken Knöchel auf das rechte Knie, völlig entspannt und Herr der Lage. „Weißt du, Justin, ich muss meine Anhänger ständig testen. Zeigt nur einer unter uns Schwäche, könnte das uns allen schaden.“
Justin nickte, als verstünde er den Mist.
„Ich tue das nicht gern, und manchmal sehen meine Tests für Uneingeweihte wahrscheinlich seltsam aus. Aber ich darf niemanden von der Prüfung ausnehmen, nicht mal die liebe, süße Alice.“ Er faltete die Hände, als ringe er mit sich, ob er fortfahren sollte. „Da gibt es ein paar Dinge, die du nicht von ihr weißt - die niemand weiß.“
Justin musste zugeben, dass er, was Alice und ihre Vergangenheit anbelangte, im Dunkeln tappte. Sie sprach nie darüber und erwähnte auch nie eine Familie, obwohl sie ihn ständig drängte, über seine zu reden. Erst nach tagelangem Bohren hatte sie ihm gestanden, dass sie zwanzig war, drei Jahre älter als er. Genau genommen wusste er nicht mal, wo sie aufgewachsen war.
„Alice war ein sehr problematisches Mädchen, als sie zu uns kam. Ihre Eltern hatten sie hinausgeworfen. Sie konnte nirgendwohin. Ich habe mich ihrer besonders angenommen, weil ich wusste, dass viel Gutes in ihr steckte, das nur gefördert werden wollte. Aber es gab da Dinge in ihrer Vergangenheit ... nun ja, ich will nur so viel sagen, Justin, sie war es gewöhnt, sexuell zu Diensten zu sein, um zu bekommen, was sie haben wollte.“
Justin zog sich der Magen zusammen. Vater sah ihm forschend in die Augen, um sicherzugehen, dass er verstanden hatte, was er ausdrücken wollte.
„Ich weiß, es ist schwer zu glauben.“ Er schien mit Justins Reaktion zufrieden zu sein und lehnte sich leicht kopfschüttelnd zurück, als könnte er Alices Vorleben selbst nicht fassen. „Wenn man jetzt sieht, welche Fortschritte sie gemacht hat, ist es nicht zu glauben, was für eine Schlampe sie war.“
Justin hätte bei dem Wort fast eine Grimasse gezogen, blinzelte aber nur und schluckte heftig. Der Mund war ihm trocken geworden, und plötzlich war es ihm im Zimmer zu heiß. Er erinnerte sich an den engen rosa Pulli, den sie Samstag getragen hatte. Wie passend das gewesen war. Dann dachte er an ihr Kopfschütteln, als Vater die Hand in ihrem Schritt gehabt hatte. Hatte er sich ihre gequälte Miene und die Furcht in ihren Augen eingebildet? Hatte sie vielleicht nur Angst gehabt, Vaters Test nicht zu bestehen? Großer Gott!
„Du verstehst jetzt also, in welcher Weise ich Alice testen musste. Es ist sehr wichtig, sicherzugehen, dass sie ihren alten Lebensstil überwunden hat und nicht andere Kirchenmitglieder in Versuchung führt. Sie muss erkennen, dass sie viel mehr zu bieten hat als ihren Körper. Ich habe sie zur Rekrutierung eingeteilt, damit sie Erfolgserlebnisse aus ihren Fähigkeiten erzielt und nicht durch ihr Aussehen.“
Justin wusste nicht, was er sagen sollte. Vater beobachtete ihn zwar abwartend, aber zum Teufel, was für eine Antwort erwartete er denn?
„Justin, du darfst mit niemandem darüber reden. Dieses Wissen darf diesen Raum nicht verlassen. Hast du verstanden?“
„Klar. Ich sag’s nicht weiter.“
„Nicht mal Alice. Sie wäre am Boden zerstört, wenn sie wusste, dass jemand Bescheid weiß.
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