Magical
herein. Midori schrie ganz laut »Tay-tay!« und deutete auf den Stuhl.
Alle Lebewesen haben einen angeborenen Instinkt zur Selbsterhaltung. Dieser Instinkt bringt kleine Tiere dazu, in Erdhöhlen zu wohnen, Schmetterlinge, sich als tote Blätter zu tarnen, oder Vögel, davonzufliegen, wenn irgendwo ein Zweig bricht. Er bringt uns dazu, vor Gefahren zu fliehen.
Ich folgte diesem Instinkt nicht. Mit klopfendem Herzen ging ich zu ihrem Tisch und erreichte ihn kurz vor Tayloe. »Hey, Leute.« Ich ließ meine Bücher auf den freien Platz gleiten.
»Der ist für Tayloe reserviert.« Das war Lisette.
Tayloe war jetzt am Tisch angekommen. Sie erkannte die Situation und trat einen Schritt zurück. »Hi.«
»Setz dich, Tayloe«, sagte Courtney. »Wir haben den Platz extra für dich freigehalten.«
Tayloe machte eine Handbewegung in meine Richtung. »Vielleicht sollten wir …«
»Nein!«, fuhr Midori sie an. »Das ist dein Stuhl. Darauf haben wir uns alle geeinigt, nicht wahr?« Sie warf Lisette einen Blick zu.
Lisette nickte. »Absolut.«
Courtney grinste hämisch. »Sorry, Em. Kein Platz.«
Gott, das war ja gerade so, als wären wir wieder in der sechsten Klasse. Ich sagte: »Gut. Wie auch immer.« Dann wandte ich mich ab und sah mich suchend im Raum um. Die Mädchen aus der vierten Stunde, die, bei denen ich immer gesessen hatte, bevor Lisette kam, saßen ganz auf der anderen Seite der Cafeteria. So weit würde ich es auf keinen Fall schaffen. Ich stolperte zurück zu dem Platz, an dem ich zuvor gesessen hatte, und setzte mich hin. Gegenüber von mir saß Kendra. Sie sagte nicht hi oder so, und ich auch nicht. Schweigend würgte ich mein Mittagessen hinunter, dann legte ich den Kopf auf den Tisch und lauschte den Geräuschen darin, so wie ich es in der ersten Klasse immer getan hatte. Es klang wie der Ozean. Was war bloß los? Was bedeutete das? Hatte ich ihnen irgendetwas getan? Hatte ich Lisette etwas getan? Nein. Lisette – Lisette war irgendwie ein Traum, der Wirklichkeit geworden war. Ich sah zu ihr hinüber. Ihr Gesicht verschwamm und sah aus wie das Picasso-Gemälde, das wir im Museum of Modern Art gesehen hatten. Darauf hatten alle Gesichtszüge eine andere Größe und waren am falschen Platz. Wo Lisettes linkes Auge sein sollte, war jetzt ein Ohr. Ein Ohr mit einem Aquamarinohrring.
Ich wandte den Blick ab und schaute auf den Cafeteriatisch, auf den jemand Miss Hill is a pill geschrieben hatte.
»Alles okay?«, fragte eine Stimme. Kendra. Zumindestglaubte ich, dass sie das sagte. Sie klang, als wäre sie unter Wasser.
Ich wusste, dass ich mich übergeben würde. Ich stand auf und stürzte zur Tür, hinaus aus der Cafeteria. Auf dem Weg zur Toilette rannte ich praktisch jemanden um. Erst als ich dort ankam, wurde mir klar, wer dieser Jemand gewesen war. Warner. Das war mir egal. Alles war mir jetzt egal. Mit Wucht stieß ich die Tür zur Mädchentoilette auf und hastete durch eine Mädchenmenge, die sich gerade den Lidstrich nachzog, in die Kabine. Ich hatte keine Zeit, die Tür zuzumachen, bevor ich anfing zu würgen.
»Na toll!«, schrie eine.
»Bist du high?«, fragte eine andere.
»Oder schwanger?«
Als ich fertig war, schloss ich die Tür und setzte mich auf den Toilettendeckel. Ich saß einfach in der Kabine und blieb dort, bis alle weg waren, weg waren, weg waren, weg waren. Ich kam zu spät zum Chor und schwebte durch meine nächsten beiden Unterrichtsstunden wie ein Geist.
Nach der Schule hatte Lisette Tanzunterricht, deshalb ging ich allein nach Hause. Ich legte mich ins Bett und blieb dort – ich las nicht, ich schlief nicht, tat überhaupt nichts. Als Mutter mich zum Abendessen rief, sagte ich, mir sei übel. Mir war übel. Am nächsten Tag ging ich zum ersten Mal in neun Jahren zur Schule, ohne die Hausaufgaben gemacht zu haben. Nach der Schule verkroch ich mich in meinem Bett wie am Vortag.
Um acht beschloss ich schließlich, dass ich Hungerhatte. Ich hatte nichts gegessen, seit ich am Tag zuvor das Mittagessen erbrochen hatte. Ich ging in die Küche. Und erstarrte.
Lisette und Daddy saßen am Küchentisch. Sie schnitzten einen Kürbisgeist.
Daddy sah mich zuerst. »Emma, geht es dir besser?«
»Ähm, ja. Ja, es geht mir besser.« Ich ging hinüber zu dem Tisch, auf dem die Kürbiseingeweide lagen, und schaute mir den Kürbis an. Es war das Motiv, das ich eigentlich hatte machen wollen, das aus meinem speziellen Buch (das neben ihnen lag). Ein Baum mit einem Vollmond dahinter.
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