Magical
nähme, würde sie schreien. Dann kämen meine Eltern angelaufen und es gäbe sofortige Vergeltungsmaßnahmen.
Stattdessen sagte ich: »Was willst du?«
Sie machte eine Geste, die das ganze Zimmer umfasste. »Das hier.«
»Was?«
»Ich will das hier, das Leben, das ich hätte haben sollen, das Leben, das ich gehabt hätte, wenn du es nicht gestohlen hättest.«
»Ich habe überhaupt nichts gestohlen. Ich war drei Jahre alt.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Dann hat es eben deineMutter für dich gestohlen. Das kommt aufs Gleiche heraus. Ich will es zurück.«
Ich verstand nicht. »Du hast alles. Du bist jetzt hier, mit meinem Vater – deinem Vater. Du hast das Haus, die schönen Kleider, alles. Was habe ich dir weggenommen?«
»Ich habe nicht alles.«
»Was hast du denn nicht? Du hast sogar meine Ohrringe genommen.«
Gleich nachdem ich das gesagt hatte, wusste ich es.
»Meine Mutter. Sie wäre noch am Leben, wenn du und deine Mutter nicht gewesen wären. Jahrelang hatten wir keine Krankenversicherung, konnten uns keinen Arzt leisten. Deshalb ging sie nicht zum Doktor. Als sie endlich doch hinging, war es zu spät. Sie war bereits todkrank und sie konnten nichts mehr für sie tun. Ich musste zusehen, wie sie starb.«
»Aber das ist nicht meine Schuld. Können wir nicht einfach …?«
»Einfach was? Freunde sein? Hältst du mich für einen Volltrottel, Emma, für das liebe kleine Mädchen, das einfach nur mit allen gut auskommen will? Das bin ich nicht. Warum sollte irgendwer mit einer Versagerin wie dir befreundet sein wollen?«
Damit hatte sie ausgesprochen, was ich schon immer gedacht hatte. »Was willst du jetzt tun?«
»Nichts, solange du dich benimmst. Gib mir, was ich will, und ich lasse dich und deine Mutter in meinem Haus leben. Aber wenn du mir das Leben schwer machst …« Siewedelte mit dem Handy. »Na ja, sagen wir einfach, wenn eine von uns gewinnen muss, dann werde ich das sein. Ich kann es schaffen, dass es nur noch mich und meinen Dad gibt, so wie es sein sollte.«
»Also, was willst du?« Ich konnte das nicht glauben. Ich erinnerte mich daran, wie ich sie vor kaum zwei Wochen hinauf in mein Zimmer gebracht und wir Kleider anprobiert und gekichert hatten. Wie hatten sich die Dinge so verändern können?
»Mein Zimmer ist nicht mehr besonders aufregend für mich. Sieht aus, als müsstest du deines an mich abtreten. Darüber hinaus halt dich einfach von mir fern. Du wirst nicht mit uns segeln gehen, Emma, oder Jeopardy anschauen oder Kürbisgeister schnitzen. Du wirst das undankbare Gör sein, dass du schon immer warst, und du wirst mich und meinen Vater in Ruhe lassen. Verstanden?«
Ich sagte nichts, sondern starrte nur hinaus auf die von Kürbisstücken übersäte Straße. Schließlich nickte ich.
KENDRA SPRICHT
(ihr habt mich doch nicht vergessen, oder?)
Okay, jetzt wisst ihr also, dass Emma (endlich!) dahintergekommen ist, dass Lisette irgendwie, ähm, böse ist. Wer das kommen gesehen hat, möge bitte die Hand heben. Alle Hände oben? Genau, wie ich angenommen hatte – alle haben es gewusst, nur Emma nicht. Ja, sie ist ein liebes Mädchen, aber eine Spur zu vertrauensselig. Sie sollte auf ihreMutter hören, aber irgendwie verstehe ich auch, warum sie das nicht tut. Stiefmütter werden immer unfair behandelt, genau wie Hexen.
Ich meine, ja, Andrea ist ein wenig launenhaft. Manche würden vielleicht sogar sagen, sie sei gemein. Aber wenn man recht hat, hat man recht und Andrea hatte recht, was Lisette angeht. Lisette versuchte, ihren Ehemann zu stehlen, der zufällig auch Emmas Vater war. Und was konnte Emma schon dagegen unternehmen? Ohne Hilfe gar nichts.
Aber das mit dem Helfen ist so eine Sache. Ich habe auf die harte Tour erfahren müssen, dass keine gute Tat ungestraft bleibt. Das habe ich in England gelernt, aber so richtig habe ich es erst in Frankreich begriffen.
Ah, Frankreich …
Wenn Emma ihre Mutter für schwierig hält, dann hätte sie erst mal Königin Marie kennen sollen. Emmas Probleme sind nichts verglichen mit denen des armen Louis, Maries Sohn. Ich musste ihm helfen. Was hatte ich für eine Wahl? Aber es gab kein Happy End, zumindest nicht für mich. Manchmal bin ich einfach ein Volltrottel.
Ich habe viele Jahre in Frankreich verbracht, habe in Pariser Cafés herumgesessen, Kunstwerke bewundert und im Großen und Ganzen la vie en rose gelebt. Ich sah die Kathedrale Notre Dame (in der es keinen nennenswerten Buckligen gab) und habe ab und zu Voltaire in
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