Magie der Schatten: Roman (German Edition)
hat?«
Nairod blickte über den grünen Urwald des Friedhofs und legte sich dann eine Hand vors Gesicht. Nein. Ja. Er war es gewesen. Die Tränen quollen durch die geschlossenen Lider. »Ja. Ja, ich war es. Aber ich werde sie befreien. Ich mache rückgängig, was ich getan habe.« Er öffnete die Augen wieder und schaute mit verschleiertem Blick über den Friedhof. Sein Atem verkam zu einem scharrenden Geräusch. »Hilf mir. Dann vergesse ich, was ich mit dir vorhatte.«
»Ich soll dir helfen? Du vergisst eines, Junge. Du stehst noch immer unter meiner Kontrolle. Ich werde dir helfen, alles wieder zu vergessen, was du eben erfahren hast. Niemand sonst auf der ganzen weiten Welt ahnt etwas davon. Ariman ist tot. Lenia, du und ich. Wir werden alle drei ewig leben, Nairod.« Sax schloss die Augen.
Etwas zog und zerrte in Nairods Innerem und riss an seinen Gedanken.
Er schrie auf und rief die Schatten an. Seine mächtigste Waffe. Die winzigen Schatten der Gräser des Friedhofs bäumten sich auf und erhoben sich zu nadeldünner Finsternis. Die schwarzen Linien vereinigten sich zu einem Sturm, einem einzigen, mächtigen Geschoss. Lautlos und tödlich fegten sie Sax entgegen. Zentimeter vor dem Wicht teilte sich der Strom und lief hinter ihm wieder zusammen. Das dunkle Geschoss schlug in die Säulen der Krypta hinter ihm. Mit einem tiefen Loch in der Mitte knickte die erste Säule ein wie ein müdes Bein. Knirschend rollte sie über das Gras und drückte es platt.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Nairod.
»Nicht ich. Du.« Sax lächelte. Hinter ihm liefen Risse durch eine zweite Säule. Sie zerbrach und stürzte in einem Trümmerregen zu Boden. »Du wolltest mich nicht töten. Du bist doch kein schlechter Mensch.«
»Das gelingt dir nicht noch einmal.«
Nairod ließ die Schatten ein weiteres Mal hochwuchern. Meterlange Arme griffen nach den Säulentrümmern und hoben sie über Sax. Nairod konzentrierte seinen Geist, aber wieder zog und zerrte etwas daran.
Sax schnippte mit den Fingern. Die Steinstücke flogen in alle Richtungen fort, nur nicht nach unten. Sie droschen Äste von Bäumen herunter und schlugen Engelsfiguren die Flügel ab. Es grollte, splitterte, donnerte, dann legte sich der Staub.
»Jetzt bin ich dran«, sagte Sax.
Nairods Hände bewegten sich von selbst, wie die einer Marionette. Sie dirigierten einen Schattenstrang, der sich um die letzte Säule der Krypta wand und sie herausbrach. Das Dach der Grabstätte kippte und fiel. Mit einer Ecke voran schlug es auf den Erdboden. Die Säule indes schwebte langsam auf Nairod zu. Er sträubte sich gegen die Bewegung, spannte seine Muskeln an und kämpfte gegen sein eigenes Inneres, aber vergebens. Die Säule kam näher.
»Das Vergessen wird dir leichterfallen, wenn wir dieses ärgerliche Ding zerstören, das der Erinnerung dient.«
Die Säule bremste über Lenias Grabstein ab. Ein Schub an Kraft flutete durch Nairod. Niemals. Nein. Er warf sich über den Grabstein, die Kante traf seine Brust. Von oben kam die Säule herab und krachte auf ihn. Die Welt zerbarst in Scherben aus Schmerz, sein Körper brach und zerriss, er spuckte Blut und Speichel. Es gab nur noch brennende Qual. Er wollte schreien, aber es kam nur ein hohles Krächzen heraus.
Der Stein zerbröckelte um ihn herum, während in seinem Körper der unheilige Vorgang begann, der ihn vom Sterben abhielt.
Die Knochen bewegten sich und fügten sich wieder zusammen. Er schrie, weil es das Einzige war, was er tun konnte – und plötzlich drangen auch wieder Laute aus seiner brennenden Kehle. Es war, als fuhrwerke jemand mit breiten Fleischermessern in seinem Brustkorb herum.
Er heulte und bäumte sich auf.
Dann stand er wieder aufrecht, und der Schmerz verebbte. Blut verschmierte seine Brust, aber da war wieder Haut, kein rohes Fleisch.
Er keuchte.
Lenias Grabstein war in der Mitte zerbrochen. Der Teil mit der Inschrift lag im hohen Gras.
I enia.
Ein Riss hatte den ersten Buchstaben zur Hälfte verschluckt.
In seinem Verstand wirbelten die Bilder umher und zerbrachen. Lenia an dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten. Sie hatte ein Buch auf dem Schoß und markierte einzelne Passagen, bis er ihr den Kohlestift aus der Hand stahl, um damit die altehrwürdigen Statuen im Akademiegarten mit dicken Kinn- und Backenbärten zu versehen. Verzweifelt versuchte er, die Erinnerung zu bewahren, und klammerte sich daran mit der ganzen Kraft seines Geistes. Aber das Bild verschwamm, und Lenias
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