Magie der Schatten: Roman (German Edition)
herausgerissenen Türen der Kutsche hindurch. Innen saßen und standen Männer, zogen Vorhänge herunter und zerrten an den Polstern. Der Rote Ronald bekam eine kleinere Kiste zu packen, die unter die Sitze geschoben worden war. Er hob seine Axt, um das Schloss zu knacken.
»Liegenlassen«, befahl Vicold. »Du weißt nicht, in was du da reinhackst. Wenn sie verschlossen ist, dann befragen wir unser kleines Bürschchen danach, wie wir sie aufbekommen.« Er wandte sich wieder an Raigar. »Wegen dem Bürschchen wollte ich ja mit dir reden.«
»Aha?«
Im Vorbeigehen strich Vicold wie gedankenverloren an der Kutsche entlang. »Ich habe mich schon gefragt, weshalb du die Idee hattest, diese Reisegesellschaft zu überfallen, wo du doch sonst so friedlich sein willst wie ein Lamm.«
Raigar schlug die Faust in das Holz der Kutsche vor Vicolds Gesicht. Späne splitterten weg. Sein Arm blockierte Vicold den Weg. »Mit den zwei Toten heute habe ich nichts zu tun. So, wie wir es mit den drei Überlebenden jetzt machen, hätten wir es mit allen machen können: Sie fesseln und hier zurücklassen.« Direkt neben ihnen lag der Ritter im Schlamm, den Vicold mit schnellen Stichen niedergemacht hatte. Nur zwei dünne Löcher in der Rüstung kündeten von Waffengewalt. Die drei anderen Ritter rollten sich gefesselt und geknebelt am Straßenrand herum. »Sie können uns weder folgen noch in absehbarer Zeit Truppen informieren.«
Vicold lachte leise. »Ich wollte nur mein Erstaunen über deinen Sinneswandel zum Ausdruck bringen. Und nun nimmst du auch noch eine Geisel. Ich habe dich vielleicht falsch eingeschätzt.«
Raigar atmete so ruhig, wie er konnte. »Das wolltest du auch nur anmerken?«
»Genau. Und die Geisel, also, dieser Junge, er gehört dir. Du hast vorgeschlagen, ihn mitzunehmen, also bist du für ihn verantwortlich.«
»Damit kann ich leben.« Raigar ging davon, auf die andere Seite der Kutsche.
Steinchen bewachte noch immer das menschliche Paket, das er geschnürt hatte. »Ich kümmere mich jetzt um ihn«, sagte Raigar. Widerwillig räumte der alte Weissager das Feld.
»Hast du Vicold zugehört?«, fragte Raigar.
Der Junge stand da mit leerem Blick, als habe er sich in Gedanken an einen besseren Ort geflüchtet.
»Wenn das ein Nein ist, dann gut. Dieser Mann ist ein Mörder und ein Tor. Niemand sollte ihm zuhören.« Raigar steckte die Hände in die Taschen. »Kleiner Mann, ich bin jetzt für dich verantwortlich. Dafür, dass du nicht davonläufst.«
***
Der kleine Mann lief nicht davon.
Er sprach auch nicht. Nicht einmal, um nach Essen oder Wasser zu verlangen. Tagelang.
Raigar musste dem Jungen Schwarzbrot und Walnüsse erst unter die Nase halten, bevor er sie aß. Vorräte hatten sie sich in den Tagen nach dem Überfall auf Höfen zusammengekauft. Sie hatten sich als reisende Pilgergruppe ausgegeben – die meisten der Männer hatten ihr Äußeres nicht sonderlich verändern müssen, um als Büßer durchgehen zu können, die in abgerissener Kleidung und im Schweiße ihres Angesichts Abbitte leisteten.
Viele Bauern gaben gern von ihren Vorräten, und Raigar dankte es ihnen mit den Schätzen, die einmal dem jungen Adligen gehört haben mochten. Der aber starrte seit dem Tag des Überfalls nur stumm vor sich hin. Möglicherweise war er auch schon sein ganzes Leben lang stumm – und taub dazu, auch das war möglich.
Die Männer hatten mehr als nur einen Namen für ihn. Er hatte seine Kleider noch nicht wechseln dürfen und trug weiterhin den Mantel mit den Edelsteinknöpfen und die Schuhe, deren Schnallen ebenfalls mit Steinen besetzt waren. So war er der Funkelknabe , Sternenglanz und nicht zuletzt Prinzessin Zauberschuh .
Aber auch auf diese Spottnamen reagierte er nicht. Er blieb still und stumm. Nur manchmal, nachts, da sah Raigar eine Träne auf seiner Wange.
***
Die mysteriöse Kiste wurde von einem bemitleidenswerten Pferd getragen. Ein dicker Söldner, den sie wegen seines Wanstes, wie ihn sonst nur die Reichen hatten, den Junker nannten, hatte versucht, die Truhe mit einem Messer aufzuhebeln, aber Vicold hatte ihn zurückgehalten. Er rechnete mit ausgeklügelten Fallen, etwa giftigen, konzentrierten Pilzgasen oder einer detonierenden Substanz, die die Beute wertlos machen würde. Da sie es nicht eilig hatten, blieb die Kiste auf den Pferderücken geschnallt, und das Tier musste sich weiter damit abmühen.
Mit solchen Nebensächlichkeiten konnten sie sich nur beschäftigen, weil jeglicher
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