Magie der Schatten: Roman (German Edition)
der Hand über die Schriften auf dem Tisch und zog sie zu sich. Nur noch mehr verwirrende Zeichnungen, die einmal wie die Berechnungen eines Magiers und dann wieder nur wie die Kritzeleien eines Kleinkindes anmuteten. » Eikyuuno «, sagte Nairod. »Das will ich von Euch.«
Der Blick des Mannes zuckte nervös an den Rand des Tischs. »Nie davon gehört.« Er beruhigte sich langsam, und in dieser Ruhe lag etwas Kaltes, das nicht zu seiner Nervosität passte.
Nairod folgte dem Blick bis zu dem Buch am Tischrand. Als er danach greifen wollte, schnappte eine mit vier Goldringen verzierte Hand es ihm weg. Nairod betrachtete das Buch und den zerfallenden Ledereinband. »Das ist es. Eikyuun o«, sagte er.
»Du kennst diesen Namen …« Die Augen des anderen verengten sich zu Schlitzen. »Woher?«
»Das braucht Euch nicht zu interessieren.«
In dem von Falten gezeichneten Gesicht des Alten breitete sich ein Grinsen aus. »Du willst das Buch. Aber es wird dir nichts nützen. Es gibt nur ein einziges Exemplar davon, und das besitze ich nicht …«, seine Finger spielten mit dem Einband, »... sondern nur einen Teil davon, denn das Buch ist in zwei Hälften zerrissen worden. Wo die andere Hälfte ist, das weiß nur der Ewige.«
»Seltsam.« Nairod strich sich über das Kinn. »Dann müsst Ihr Euch gerade mit einem Gott unterhalten. Ich weiß nämlich, wo die andere Hälfte ist.«
»Du lügst.« Arimans Hände begannen zu beben. »Niemand weiß das.« Im nächsten Augenblick war er wieder völlig ruhig und ging mit langsamen Schritten um den Tisch herum. »Sag mir, wo die andere Hälfte ist, oder ich nehme dir dein trauriges, kleines Leben.«
Nairod ging rückwärts. Papier knisterte unter seinen Füßen. »Ihr habt den Verstand verloren.« Er ließ seine Hand vorsichtig zu der Tasche des Rucksacks gleiten, in der er Lenias Kristall aufbewahrte.
»Du wirst gleich etwas sehr viel Wichtigeres verlieren, mein Junge.« Irgendetwas an Arimans Gestalt veränderte sich. In den Ärmeln des Schlafrocks wuchsen die Arme. Aus dem Gesicht schien der letzte Rest Menschlichkeit herauszusickern. Er hob die freie Hand und vollführte mit den Fingern eine Geste in der Luft. Nairod erkannte sie. Die Geste eines Magiers.
Er antwortete mit einer eigenen Geste, um den Zauber zu bannen, bevor er wirksam werden konnte.
Arimans Schatten zog sich in die Länge und wuchs in die Breite. Auch die Papierstapel warfen wüste Schatten, die sich zu bewegen begannen. Sie tanzten und verformten sich zu unmöglichen Gestalten. Ein kalter Wind wehte durch den Raum, und das spärliche Licht verschwand unter einer Schicht aus zähflüssigem Zwielicht.
»Was …«, brachte Ariman hervor und sah sich aufgeregt um.
Die Schatten griffen ineinander, schienen miteinander zu ringen. Der Schatten unter Nairods Füßen kroch davon, in Arimans Richtung. Was noch an Licht im Raum war, schmolz immer weiter zusammen. Den Schatten wuchsen jetzt Arme und Finger, die sich nach Ariman streckten. Und dann gab es nur noch Dunkelheit.
Nairod hörte nur seinen eigenen Atem, sonst herrschte Stille. Schließlich das Rascheln von Papier. Etwas klirrte. Etwas streifte sein Bein. Ein Schrei.
Die Finsternis zog sich zurück. Sie kroch in die Ecken, aus denen sie gekommen war, und gab Berge aus aufgewirbeltem Papier frei. Der Inhalt zerbrochener Tintenfässchen hatte dunkle Flecken auf dem Boden hinterlassen. Eine Erschöpfung füllte Nairod aus, als habe er einen tagelangen Marsch hinter sich.
Vor ihm lag das zerfledderte Buch, an das Ariman sich geklammert hatte. Der Magier selbst krabbelte rückwärts über den Boden. Sein ganzer Leib zitterte, und er starrte durch Nairod hindurch. Er stieß gegen den Schreibtisch, aber seine Beine bewegten sich weiter, als wollten sie ihn unbedingt von Nairod forttragen.
Schritte kamen die Treppe herab.
Nairod drehte sich langsam um. Jede seiner Bewegung ging zäh und träge vonstatten, so träge wie seine Gedanken, die noch nicht ganz begriffen.
Lenia betrat den Raum. »Was ist hier passiert? Dieses … Chaos … und die Schreie.«
»Keine Ahnung.« Nairod bückte sich nach dem Buch. Kaum berührten seine Finger den Umschlag, strömte neue Kraft in ihn.
Sax hüpfte die Treppenstufen herunter und blieb hinter Lenia stehen. »Das Buch, ist es das?«
Nairod nickte.
»Er … er hat dein Gesicht gesehen«, sagte Lenia.
»Aber er hat es längst vergessen, denn er hat auch irgendetwas anderes gesehen. Etwas, das ihn dort am Boden
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