Magie der Sehnsucht - Roman
»Wissen Sie’s?«
»Das erkläre ich Ihrer Freundin immer wieder. Es ist unmöglich.«
»Ja, sie ist schrecklich stur. Niemals hört sie einem zu – es sei denn, man schneidet ein Thema an, das ihr gefällt.«
»Okay, vielleicht bin ich stur«, gab Grace zu. »Jedenfalls
verstehe ich nicht, warum du ein Gefangener deines Fluchs bleiben willst, Julian.«
»Geh mir nicht auf die Nerven!«
»Ausnahmsweise muss ich ihr zustimmen«, sagte Selena. »Das verstehe ich auch nicht, Julian. Warum wurden Sie eigentlich verflucht? Was haben Sie verbrochen?«
»Hybris.«
»Oooh, das ist tatsächlich sehr schlimm, Grace.« Unheilvoll runzelte Selena die Stirn. »Wegen dieses Vergehens wurden die Leute früher in Stücke gerissen. Hättest du bloß besser aufgepasst, als wir in Altertumskunde unterrichtet wurden! Wenn die griechischen Götter jemanden bestrafen wollten, waren sie furchtbar bösartig.«
Graces Augen verengten sich. »Wie auch immer, ich weigere mich zu glauben, dass es keine Möglichkeit gibt, Julian zu befreien. Können wir das Buch nicht vernichten – oder einen deiner Geister um Hilfe bitten?«
»Also nimmst du meine Voodoo-Magie endlich ernst?«
»Nicht direkt. Aber du hast ihn hierher geholt. Vielleicht fällt dir irgendwas ein …«
Nachdenklich kaute Selena an ihrem Daumennagel. »Welche Gottheit war Ihnen besonders gewogen, Julian?«
»Keine«, seufzte er gelangweilt. »Als Soldat brachte ich der Göttin Athene die meisten Opfer. Aber mit Eros fühlte ich mich enger verbunden.«
»Ah, der Gott der Liebe und der Lust …« Vielsagend lächelte sie ihn an.
»Nicht aus den Gründen, die Sie vermuten«, bemerkte er trocken.
Ohne seinen Einwand zu beachten, erkundigte sie sich: »Haben Sie Eros jemals gefragt, ob er Sie retten würde?«
»Wir reden nicht miteinander«, antwortete er sarkastisch, was Grace irritierte.
»Sie sollten sich mal an ihn wenden«, schlug Selena vor.
»Sei nicht albern, Lanie«, tadelte Grace. »Ich weiß, ich habe deine okkulten Neigungen jahrelang verspottet. Aber jetzt geht es um Julians Leben.«
»Oh, das meine ich ernst«, beteuerte Selena. »Es wäre am besten, wenn Julian den Liebesgott zu sich rufen und herausfinden würde, ob es irgendwelche Mittel und Wege gibt.«
Verdammt noch mal, warum nicht, dachte Grace. Bis zum letzten Abend hatte sie es für unmöglich gehalten, ein Bild zum Leben zu erwecken … Vielleicht hatte Selena Recht. »Würdest du es versuchen, Julian?«
Resignierend schaute er nach oben. »Eros, du elender Bastard, ich befehle dir, sofort in menschlicher Gestalt zu erscheinen.«
Selena lachte, und Grace warf ihre Arme hoch. »Also wirklich, es ist mir rätselhaft, warum er nicht darauf reagiert. Aber ich glaube ohnehin nicht an diesen Hokuspokus. Kommt jetzt, werfen wir unsere Einkäufe in mein Auto. Dann gehen wir zum Lunch und denken uns was Produktiveres aus als ›Eros, du elender Bastard‹. Einverstanden?«
»Oh ja, was für eine fabelhafte Idee!«, jubelte Selena.
Grace gab ihr einen Beutel mit Kleidern. »Da sind Bills Sachen.«
Mit zusammengekniffenen Augen spähte Selena hinein. »Wo ist das weiße Tanktop?«
»Das bekommst du später.«
Da lachte Selena laut auf.
Auf dem Weg aus dem Einkaufszentrum ging Julian hinter den beiden Frauen und lauschte ihrem fröhlichen Geschwätz. Glücklicherweise hatte Grace einen Parkplatz
direkt vor dem Brewery gefunden. Er beobachtete, wie sie die Einkaufstüten und den Beutel im Kofferraum verstauten. Obwohl er sich das nur widerstrebend eingestand – er freute sich, weil Grace ihm helfen wollte.
Darum hatte sich noch niemand gekümmert.
Sein Leben lang war er allein gewesen. Nur seine körperlichen Kräfte und sein Verstand hatten ihn gerettet. Schon vor dem Fluch hatte er unter seiner Einsamkeit gelitten. Nirgendwo auf dieser Welt gab es jemanden, dem er etwas bedeutete.
Wie schade, dass er Grace nicht vor seiner Verdammnis begegnet war … Vielleicht hätte sie ihn von seiner inneren Unrast erlöst. Aber in seiner Zeit waren die Frauen anders gewesen.
Grace betrachtete ihn als ihresgleichen. Und die Frauen in ferner Vergangenheit hatten eine Legende in ihm gesehen, die man fürchten oder besänftigen musste.
Warum erschien ihm Grace so einzigartig? Weil sie ihm eine hilfreiche Hand reichte? Nachdem ihm sogar seine eigene Familie den Rücken gekehrt hatte …
Er wusste es nicht genau. Jedenfalls war sie etwas ganz Besonderes. Ein reines, gütiges Herz in einer Welt voller
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