Magie und Schicksal - 2
dem Stein.
Und er ist hier irgendwo. Ich kann es fühlen.
18
A n diesem Abend werden wir beim Essen von Mr O’Leary und Brigid mit Fragen gelöchert. Ich betaste den Dolch durch den Stoff meines Beutels hindurch, während sie sich wieder und wieder nach unseren Erlebnissen in der Grabanlage erkundigen. Und das trotz Dimitris anfänglicher Versicherung, dass wir die Gegend lediglich vom Rücken der Pferde aus erkundet haben. Erst nach dem Dessert lässt Mr O’Leary von uns ab, und ich weiß nicht, ob der Ausdruck in seinen Augen Erleichterung oder Enttäuschung ist.
Ich bin froh, als Dimitri und ich uns schließlich vom Tisch erheben und in unsere Zimmer zurückziehen können, ohne unhöflich zu sein. Gemeinsam wünschen wir den O’Learys eine gute Nacht und steigen die Treppe hinauf. Vor meinem Zimmer küssen wir uns rasch, aber nichtsdestotrotz leidenschaftlich, und dann geht Dimitri zu seinem eigenen Zimmer.
Es ist herrlich, die Hosen und das Hemd ausziehen zu können. Sie sind zwar viel bequemer als ein langer Rock und ein Korsett, aber nichtsdestotrotz fühlt sich das zarte Nachthemd himmlisch auf meiner Haut an.
Ich ziehe mir die Wolldecken bis unters Kinn und bin froh, dass im Kamin ein Feuer brennt. Ich vermute, dass Brigid so fürsorglich war, denn außer der Küchenhilfe, die beim Zubereiten der Mahlzeiten Hand anlegt, habe ich noch keine andere Frau im Haus gesehen. Ich mache mir nicht mehr die Mühe, die Wärme des Schlangensteins zu prüfen. Vor ein paar Tagen habe ich diese Angewohnheit aufgegeben. Es ist nicht zu leugnen, dass er ständig an Wärme verliert. Ich leiste mir diesen kleinen Selbstbetrug und gleite sanft in den Abgrund des Schlafes.
Ich könnte schwören, dass ich in einer der Höhlen in Loughcrew stehe, obwohl ich es nicht beweisen kann. Ich weiß es einfach, so wie man Dinge in Träumen weiß.
Anfangs bin ich allein und gehe durch den kühlen, feuchten Gang. Als Lichtquelle dient mir eine Fackel. Ich suche nach etwas – oder nach jemandem –, aber ich weiß nicht, nach was oder wem. Es ist wie der Schatten eines Gedankens. Ich gehe weiter und weiter, während ich mit den Augen die Felswände und den Boden absuche, immer tiefer hinein in den Bauch der Höhle.
Da höre ich ein Flüstern. Es ist nicht das gedämpfte Murmeln, das ich vernahm, wenn Alice im dunklen Zimmer ihre Zaubersprüche sprach, sondern einfach ein leises
Gespräch. Mit jedem Schritt, den ich mache, wird es lauter, und als ich um eine Biegung komme, sehe ich sie.
Die Mädchen gehen Seite an Seite. Sie haben sich an den Händen gefasst. Eine davon erkenne ich sofort.
Blitzartig zuckt die Erinnerung an jenen Nachmittag in New York in mir auf, als mir das Mädchen das Medaillon zum ersten Mal überreicht hat.
Später sah ich sie auf dem Weg vor dem großen Haus in Birchwood, wo sie es mir ein zweites Mal gab, nur kurz nachdem ich es in den Fluss geworfen hatte.
Und dann sah ich sie noch einmal in dem Traum, den ich hatte, kurz bevor ich Altus verließ: wie sich ihr engelsgleiches Antlitz in Alices Gesicht verwandelte.
In Gedanken nenne ich sie meine Traum-Alice, trotz des goldenen Haars, das sich deutlich von den kastanienbraunen Locken meiner Schwester unterscheidet.
Das Mädchen an ihrer Seite ist genauso groß wie sie, aber ihr Haar ist rötlich braun und gelockt. Sie dreht sich um und schaut mich an, verschränkt ihren Blick mit meinem. Selbst im schwachen Fackelschein kann ich sehen, dass ihre Augen genauso grün sind wie meine. Abgesehen von den braunen Haaren ist sie das Spiegelbild des blonden Mädchens, das in den dunkelsten Momenten, die ich im Würgegriff der Prophezeiung erlebt habe, eine so wichtige Rolle gespielt hat. Aber das Gesicht dieses Mädchens ist weicher, unschuldig.
»Kommst du mit uns? Bitte!« Ihre Stimme zittert; Angst breitet sich auf ihren zarten Zügen aus.
Ich nicke, obwohl mein Herz schneller schlägt. Ich weiß, dass das andere Mädchen das Kind aus meinen schlimmsten Albträumen ist, und der Gedanke, ihr tiefer in diese Höhle zu folgen, gefällt mir gar nicht.
Gleich darauf dreht sich das blonde Mädchen zu mir um. Ihr Lächeln ist geheimnisvoll. »Ja, komm mit, Lia. Ich werde es euch beiden zeigen.« Ihre Stimme klingt so, wie ich sie in Erinnerung habe – übertrieben kindlich und irgendwie gekünstelt naiv.
Ich habe keine Gelegenheit zu fragen, was sie meint, denn sie dreht sich weg und zieht das andere Mädchen an der Hand mit sich. Ich folge ihnen. Die
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