Magie
sie nicht an das Kleid gewöhnt war, ergriff sie dankbar Dakons dargebotene Hand und brachte es fertig auszusteigen, ohne allzu viel von ihren Knöcheln zu entblößen - zumindest hoffte sie es. Anscheinend war es unzüchtig, die nackte Haut von Füßen oder Beinen zu zeigen.
Als sie zu Avaria aufblickte, sah sie voller Erleichterung, dass die Frau beifällig nickte. Dann drehte Tessia sich um, um den Königspalast zu betrachten, und ihr blieb beinahe die Luft weg.
Sie hatte schon früher hie und da einen Blick auf den Palast erhascht, aber aus solcher Nähe hatte sie ihn noch nie gesehen. Vor ihnen hing an gewaltigen Ketten ein riesiges Tor über den Männern und Frauen, die in den Palast schlenderten. Zu beiden Seiten des Tores erhoben sich zwei hohe Türme. In den schmalen Fenstern und zwischen den Zinnen auf ihrem Dach brannten Lampen - ebenso wie entlang der Mauern, die sich zu beiden Seiten erstreckten.
Everran und Avaria schritten als Erste unter dem hängenden Tor hindurch und über eine Brücke, die einen wassergefüllten Graben zwischen der äußeren und einer inneren Mauer überspannte. Auf dem Wasser spiegelten sich die vielen Lichter wider. Durch die innere Mauer führte ein weiterer Durchgang, dessen schwere Eisentore König Erriks Familienname und Wappen zierten. Sie standen zu ihrem Empfang weit offen.
Durch diese Eisentore gelangten sie in die Empfangshalle des Palastes, die der in Dakons Herrenhaus entsprach, aber größer und prächtiger war. Diener empfingen die Besucher und geleiteten sie durch einen überwölbten Durchgang zwischen den Treppen zu beiden Seiten hindurch. Tessia bemerkte, dass diese Treppen von frei stehenden Stellschirmen versperrt wurden, neben denen je zwei Wachen standen.
Vor dem Torbogen nannte Everran dem Diener, der sie begrüßte und anschließend hindurchwinkte, ihrer aller Namen. Als sie in den Saal dahinter trat, setzte Tessias Herz einen Schlag aus.
Sie hatte noch nie einen so großen Raum gesehen. Darin
hätte das gesamte Herrenhaus Platz gefunden, vermutete sie. Vielleicht zwei Herrenhäuser. Schlanke Steinsäulen in zwei Reihen stützten die aus vielen Gewölben bestehende Decke. Anstelle von Lampen erhellten schwebende magische Lichtkugeln den Saal.
Die Wände waren bedeckt mit gewaltigen Gemälden und Wandbehängen, aber es waren die Menschen, die als Nächstes Tessias Aufmerksamkeit erregten. Hunderte von Männern, Frauen und sogar einige Kinder schlenderten umher, paarweise, in kleinen und größeren Gruppen. Alle trugen modische, teure und in manchen Fällen extravagante Kleidung. Juwelen glitzerten unter den Kugellichtern. Sie folgte den anderen in den Saal. Es ist wie eine Landschaft aus Menschen, dachte sie . Wenn man sich bewegt, ändert sich die Perspektive und bietet ständig einen anderen Blick auf etwas, das man zuvor noch nicht gesehen hat.
Noch während ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, änderte das Bild sich abermals, und ein gut gekleideter Mann in Jayans Alter erschien, umringt von einem Halbkreis anderer Männer. Ihre Begleiter blieben stehen, und sie stellte fest, dass sie alle diese Gruppe anschauten.
»Das ist König Errik aus dem Geschlecht Kyran«, murmelte Jayan ihr ins Ohr.
Sie nickte. Im nächsten Moment schaute der junge Mann in ihre Richtung, ließ den Blick flüchtig über ihre Gesichter gleiten und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf die Männer vor ihm.
»Nun, er hat uns gesehen«, bemerkte Everran, bevor er sich an Dakon wandte. »Wenn er mit uns reden will, wird er uns rufen lassen. In der Zwischenzeit sollten wir beide mit Lord Olleran sprechen.«
Dakon nickte. Als er und Everran davongingen und Jayan ihnen folgte, hakte Avaria sich bei Tessia unter.
»Sollen sie doch allein über Politik und Handel reden«, flüsterte sie. »Ich habe gerade Kendaria entdeckt. Kommt mit. Hier entlang.«
Tessia schluckte ihren Ärger und ihre Enttäuschung hinunter.
Sie würde abermals von Dakons Angelegenheiten, worin immer diese bestehen mochten, ausgeschlossen bleiben. Gewiss handelte es sich um etwas, das für einen Magier wichtig und das sie daher wissen sollte, wie langweilig es auch sein mochte. Außerdem würde Tessia Dinge, die Avaria langweilten, vielleicht interessant finden. Oder umgekehrt.
Kendaria beobachtete einen Akrobaten, der anmutige, beeindruckende Verrenkungen vollführte. Der junge Mann trug lose Hosen, die an der Taille und an den Knöcheln gerafft waren, aber seine Brust war nackt und muskulös.
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