Magier des dunklen Pfades 2 - Der Alte Bund (German Edition)
brauchte.
Heute jedoch half es nicht.
Einen Moment blickte sie aus dem kleinen Fenster. Die Nacht vertrieb gerade die Dämmerung, die in so wundervollem Rosa den Himmel geziert hatte.
Dann lauschte sie. Alles ruhig, als hielte die Welt den Atem an vor Trauer, dass das Farbenspiel des Horizonts verblasste. Mit der Stille wäre es vorbei, sobald die Perle aufmachte. An sich machte ihr das nichts aus, heute allerdings war ihr die Aussicht auf Lärm und Tabakrauch und oberflächliche Gespräche zuwider.
Sie wusste, an was – oder besser gesagt wem – das lag.
Lorgyn.
Seit ihrer ersten Begegnung fühlte sie sich ihm hingezogen, doch hatte sie diese Regung unterdrückt, vor allem Alunas wegen. Erstens war sie krank, zweitens eine liebenswerte Frau, die es nicht verdiente, dass jemand ihre Schwäche ausnutzte, um ihr den Mann auszuspannen. Doch je öfter Laris ihn sah, desto mehr fiel dieser innere Wall der Zurückhaltung in sich zusammen. Wann war er endgültig eingestürzt? Auf dem Friedhof, als Lorgyn, nachdem er Genthate vergrault hatte, zu Arlo und ihr kam? Danach, als er sie allein am Grabstein ihrer Mutter fand? Oder noch später? Irgendwie war es einfach passiert.
An jenem Abend, als sie auf dem Dachboden des Stalls miteinander schliefen, war sie angetrunken gewesen. Dennoch erinnerte sie sich an jedes Detail: seine zaghaft suchenden Finger während der Snorg-Runde, den ersten Kuss, ihr Liebesspiel.
Danach hatte sie sich schäbig gefühlt, genau das getan zu haben, was sie mit allen Mitteln vermeiden wollte: eine todkranke Frau zu hintergehen. Aber ihre Zuneigung war stärker als jeder Vorbehalt, egal, was dagegensprach, egal, wie man das auffasste. In dieser Hinsicht war sie nicht Herr ihrer Sinne. Sie wusste das. Ändern jedoch konnte sie es nicht.
Fühlte sie sich derart zu ihm hingezogen, weil er die Geheimnisse und Andeutungen, die sie bei Büchern so faszinierten, als Mensch in sich trug? Zweifelsohne hatte Neugierde das Band gelegt, das sie nun an ihn fesselte, ob sie wollte oder nicht. Das Verlangen nach ihm war süßer Schmerz, wie der Stich eines Rosendorns in die Fingerkuppe, wenn man aufkeuchte und doch fasziniert zusah, wie das Blut aus der Wunde quoll.
Sie wollte ihn finden, und dann würden sie Wintertal zusammen verlassen.
Aber was, wenn Arlo recht hatte? Wenn Aluna recht hatte? Wenn Lorgyn ein Mörder war!
Unfug!
Er war ein guter Mensch, nur eben anders. Mysteriös, doch nicht von übler Gesinnung.
Trotzdem hatten Arlos Worte ihre Seelenwaage in Schieflage gebracht. Sie hatte Schlagseite, drohte durch die Schicksalswellen zu kentern und hinab in die Tiefe der Verzweiflung gezogen zu werden.
Verflucht, Lorgyn, was hast du nur mit mir gemacht?
Oder besser gesagt: Was hatte Gerom mit Lorgyn gemacht?
War ihr Vater in der Lage, einem Menschen Leid zuzufügen? Manchmal war er impulsiv und verletzend und schoss über das Ziel hinaus, nicht wissend, wie tief seine Worte schnitten. Genau wie Lorgyn jedoch war er kein schlechter Mensch.
Oder habe ich mich bisher in allem getäuscht? Hat mein Hang zu Märchen und Träumereien meine Wahrnehmung verklärt, sodass ich jedem Menschen stets ebensolch märchenhafte Wesenszüge andichte?
Es half alles nichts, sie musste mit ihrem Vater sprechen. Heute Nachmittag vor dem Connark war sie bereit gewesen. Aber jetzt? Sie wusste, er war wieder da, hatte seine Schritte gehört, seine tiefe Stimme, die laut geworden war. Ein, zwei Stunden war das nun her. Wahrscheinlich hatte Jasko mal wieder irgendetwas verbockt.
»Du ziehst das nun durch«, sagte sie, öffnete die Tür und setzte den Fuß auf die Stufe der Treppe, die hinab zum ersten Stock führte, wo Gerom wohnte. Von da noch eine Treppe, und sie wäre im Schankraum.
Sie verharrte in der Bewegung und erschrak leicht, denn irgendjemand hämmerte die Faust gegen die Tür der Taverne. »Aufmachen! Im Namen der Iros-Kirche!« Durch die dicke Tür bis nach hier oben drang der Ruf.
Schritte. Die Tür wurde geöffnet. Das Poltern zahlreicher Stiefel.
»Wie kann ich helfen?« Geroms Stimme. Nicht erzürnt, sondern höflich. Normalerweise brachte ihn ein derart forsches und ungehobeltes Gebaren binnen Herzschlagschnelle in Rage. Das hier war seine Taverne. Seine Perle. War er eingeschüchtert?
»Bist du der Wirt?« Die Stimme war noch tiefer und dunkler als die ihres Vaters.
»Ja.«
»Gerom, Mitglied des Dorfrates?«
»Zu Euren Diensten, Hauptmann.«
»Gut.« Nun ertönte ein Geräusch, als
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