Magierdämmerung 01. Für die Krone - Perplies, B: Magierdämmerung 01 Krone
den Arm. »Gute Nacht, und bis morgen!«
»Schlaf gut, alter Knabe!«
Gebückt stieg Jonathan aus, schloss die Tür hinter sich und gab ihrem Fahrer ein Zeichen. Während die Kutsche wieder anfuhr, setzte er seinen Hut auf und blickte sich um. Die nächtliche Straße war menschenleer, und hinter den Fenstern der Häuser brannte nirgendwo mehr Licht. Der Nebel wurde langsam dichter. Lautlos und schleichend kam er von der Themse her und dampfte durch Gullydeckel aus der Kanalisation, und seine dunstigen Arme umschmeichelten die in Reih und Glied stehenden Gaslaternen am Straßenrand. Jonathan rieb sich fröstelnd die Hände, bevor er sie tief in die Taschen seiner dunklen Hose schob, die Schultern hochzog und die Straße überquerte.
Die Marktgebäude am Smithfield zu seiner Rechten, eilte er mit langen Schritten die Charterhouse Street hinunter. Irgendwo in der Ferne schlug eine Kirchturmuhr ein Mal zur Viertelstunde, und unter seinen Füßen vernahm Jonathan auf einmal ein dumpfes Rumpeln und Quietschen, das nur von einem der Güterzüge herrühren konnte, die unter dem untertunnelten Markt hindurch in Richtung der Depots im Norden oder der Docks im Süden fuhren. Sonst war alles ruhig.
Auf Höhe der Passage, die zwischen dem Geflügel- und dem Fleischmarkt verlief, verspürte er zum ersten Mal ein leichtes Zupfen, so als versuche ein nicht sonderlich geschickter Langfinger, unter Jonathans Rockschöße zu greifen, um heimlich seine Geldbörse herauszuziehen. Alarmiert drehte Jonathan sich um, aber da war niemand. Stirnrunzelnd zog er die Hände aus den Taschen und prüfte sein Hab und Gut. Alles war an seinem Platz. Vielleicht habe ich irgendeinen Mauervorsprung gestreift , dachte er sich, auch wenn sein Verstand ihn sogleich darauf hinwies, dass das schwerlich möglich sei, da er einen Abstand von gut drei Schritt von der Hausmauer hielt. Also hat mir wohl meine Fantasie einen Streich gespielt , schloss er, zuckte mit den Schultern und setzte seinen Weg fort.
Als er das östliche Ende des Fleischmarkts erreichte, spürte er wieder dieses Zupfen, diesmal so eindeutig, dass er es sich unmöglich eingebildet haben konnte. »Was in Gottes Namen …?« Er blieb erneut stehen und blickte sich um. Niemand war zu sehen. Gegen seinen Willen drängte sich ihm plötzlich eine Fortsetzungsgeschichte von H. G. Wells in den Sinn, die er erst kürzlich im Pearson’s Magazine gelesen hatte, einem der vielen Unterhaltungsblätter, die aufgrund des Erfolges seines eigenen Brötchengebers in letzter Zeit an der Fleet Street in Mode gekommen waren: Der Unsichtbare …
Jonathan schüttelte entschieden den Kopf. Was für ein Hirngespinst. Ich selbst prüfe manchmal die fantastischen Geschichten unserer Autoren auf Orthografie und Inhalt, und ich weiß, dass sie sich vielleicht hier und da einige Fakten aus unserer Welt ausborgen, aber im Grunde nichts als blühende Fabulierkunst betreiben. Es gibt keinen Unsichtbaren! Er war müde und überreizt, das war alles.
Inzwischen hatte er den Charterhouse Square erreicht, eine kleine Grünfläche am linken Ende der gleichnamigen Straße. Zwischen den Häusern zu seiner Rechten öffnete sich eine schmale Gasse. In dem Augenblick, als er daran vorbeiging, wurde er plötzlich nach rechts gerissen. Er stolperte und stützte sich in letzter Sekunde mit einer Hand an der Hauswand ab, bevor seine guten Hosen Bekanntschaft mit dem schmutzigen und feuchten Kopfsteinpflaster machten. Ein Laut des Erschreckens entfuhr ihm. Das kann nicht wahr sein! , schoss es ihm durch den Kopf. Was ist das?
»Hallo?«, fragte er leise. Er wagte es nicht, laut zu rufen, einerseits weil es mitten in der Nacht war und in den umliegenden Häusern zweifellos die Menschen schliefen, andererseits weil ihn eine eigentümliche Furcht erfasst hatte und er im Grunde gar nicht wollte, dass was immer ihn nach Süden zu ziehen versuchte, seinen Ruf hörte.
Eben dieser Teil von ihm, der mit beklommenem Blick in die Dunkelheit der Gasse schaute, drängte ihn dazu, die Beine in die Hand zu nehmen und nach Hause zu rennen, um dort die Tür hinter sich zu verriegeln, sich ins Bett zu verkriechen und die Decke über den Kopf zu ziehen. Doch Jonathan war auch Journalist – und das aus Leidenschaft –, und als solcher war er mit einer natürlichen Neugierde gesegnet, die sich nicht einfach verdrängen ließ.
Unsicher fuhr er sich mit der Hand über den Mund. Dann holte er tief Luft und begab sich vorsichtig in die Gasse hinein.
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