Magierdämmerung 01. Für die Krone - Perplies, B: Magierdämmerung 01 Krone
und lief direkt in den Mann hinein, der hinter der Hausecke vor einem Strauch stand.
»He! Verdammt noch eins!«, fluchte dieser mit schwerer Zunge, als er zur Seite gerempelt wurde.
Statt eilig weiterzulaufen und vielleicht im Schutz der Dunkelheit verschwinden zu können, bevor man sie erkannte, beging Kendra den Fehler, stehen zu bleiben und sich umzuschauen. Der Mann, so erkannte sie, war offensichtlich gerade damit beschäftigt gewesen, Wasser zu lassen, und sie schlug schnell die Augen nieder, während er mit unsicheren Bewegungen an seiner Hose herumnestelte, um seinen unschicklichen Aufzug zu beheben. Es war Onkel Callum.
»Kendra?« Ihr Vormund schwankte und stierte sie aus vor Müdigkeit und Trunkenheit rot verquollenen Augen an. »Was machst du denn hier? Wieso bist du nicht im Bett?«
»Ich habe dich gesucht«, log Kendra rasch, weil ihr nichts Besseres einfiel. »Es war schon so spät, und du bist nicht nach Hause gekommen. Ich wollte nachsehen, ob dir auf dem Heimweg etwas zugestoßen ist.«
Callum fuhr sich mit der linken Hand durch das fettige Haar und blinzelte ein paarmal, als versuche er, einen klaren Kopf zu bekommen. »Unsinn!«, sagte er dann. »Du hast noch nie nach mir gesucht.« Er bekam einen Schluckauf und zog geräuschvoll die Nase hoch. Dabei musterte er seine Ziehtochter so aufmerksam, wie es ihm in seinem gegenwärtigen Zustand möglich war. Schwer atmend wankte er einen Schritt auf sie zu. »Sag mal, sind deine Haare nass? Und was hast du da im Arm? Ein Laken?« Er streckte die Hand nach ihr aus, und sofort wich sie zurück. Sie wollte nicht von ihm berührt werden. Nicht, wenn er so betrunken war.
»Na?«, knurrte er. »Hat es dir die Sprache verschlagen, oder was?«
Kendra wusste nicht, was sie ihm darauf antworten sollte.
»Nun zeig mal her, was du da hast? Einen Beutel hast du auch noch dabei? Wolltest du ausbüchsen? Hm?« Seine vom vielen Alkohol gezeichnete Stimme wurde immer lauter. Um die Nachtruhe seiner Mitmenschen schien er sich nicht zu scheren. Wieder machte er einen Schritt nach vorne und griff nach Kendra. Diesmal erwischte er ihren rechten Arm und zog sie grob zu sich heran.
»Nein!«, presste Kendra hervor und versuchte, seine Hand abzuschütteln. »Lass mich!«
»Undankbares Weibsstück. Hör auf, so ein Theater zu machen! Willst du das ganze Dorf wecken?«, dröhnte Callum und trug durch sein Lärmen wesentlich mehr dazu bei, seine Befürchtungen Wirklichkeit werden zu lassen, als Kendra zuvor.
Er packte sie mit der zweiten Hand und grub seine Finger schmerzhaft in ihren linken Oberarm. Seine Jacke stank nach Tabak, und sein Atem roch nach Alkohol.
Auf einmal war alles um Kendra herum in ein gelbes Licht getaucht. Die Magie war wieder da. Es war, als habe jemand einen Vorhang zur Seite gezogen und dadurch die Energien enthüllt, die unter der Fassade der Wirklichkeit pulsierten wie Blut durch die Adern eines menschlichen Körpers. »Lass mich los!«, fauchte Kendra zornig. Sie streckte ihre Arme aus, und glitzernde Energiebündel schossen aus ihren Händen hervor, donnerten gegen die breite Brust des Dorfarztes und schleuderten ihn mit übermenschlicher Kraft davon. Onkel Callum flog hoch durch die Luft und prallte auf der anderen Seite der Straße gegen das Steingeländer der Brücke über den Coe. Sein Kopf ruckte zurück und knallte gegen die grauen Wackersteine. Schlaff sackte er in sich zusammen, während es gleichzeitig um Kendra wieder dunkel wurde und die Nacht ihren Mantel über die Magie deckte.
Auf einmal war es totenstill auf der Straße. Sogar die Grillen, die bis eben noch leise zirpend im Gras und in den Sträuchern gesessen hatten, schwiegen.
Kendra schluckte und nahm langsam die ausgestreckten Arme herunter. Im nächsten Moment kam Bewegung in sie. Bei allen Schwierigkeiten, die ihre Vater-Tochter-Beziehung immer wieder haben mochte, bei allem Zorn, den sie bisweilen auf ihn verspürte, wäre es niemals ihre Absicht gewesen, ihm etwas anzutun. Doch nun lag Onkel Callum dort im Straßenstaub und regte sich nicht mehr, und Kendra wurde auf einmal von der grauenvollen Furcht übermannt, sie könne ihren Vormund getötet haben.
Sie rannte zu ihm hinüber und kniete sich neben ihn. Er war ohnmächtig geworden und hatte eine Platzwunde am Hinterkopf. Aber er lebte. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Kendra dankbar dafür, dass Onkel Callum so einen Dickschädel hatte. Sie nahm ihr feuchtes Nachthemd, das sie um den Riemen ihrer
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