Magierdämmerung 02 - Gegen die Zeit
befindet sich im Haus!«
Jonathan fluchte unterdrückt, warf sich herum und schwang sich über die Balustrade. Er verband ein kurzes Fadenbündel mit dem Steingeländer und sprang anschließend in den Garten hinab. Unglücklicherweise hatte er sich in der Hast verrechnet. Der Faden war zu lang, und er kam härter als gedacht am Boden auf. Die Wucht des Aufpralls zwang ihn dazu, sich fallen zu lassen und abzurollen. Einen Moment lang drehte sich alles um ihn. Taumelnd kam er wieder auf die Beine und wollte seine Flucht fortsetzen. Da erklang eine Stimme über ihm.
»Halt! Keine Bewegung, oder ich schieße!«
Jonathan schaute nach oben und sah einen Mann in einem grauen Anzug und gleichfarbigen Mantel, der mit einem Revolver auf ihn zielte. Delacroix und ein blau uniformierter Polizist flankierten ihn.
Gleichzeitig wurden Schritte laut, und zwei weitere Polizisten sowie ein stämmiger Inspektor mit buschigem Schnurrbart und Melone auf dem Kopf kamen ums Haus herum angerannt. Auch der Inspektor hatte eine Waffe in der Hand.
Mit raschem Blick maß Jonathan die Entfernung bis zur Mauer. Der Weg war zu weit und zu ungeschützt, das Risiko, von der Kugel eines übereifrigen Polizeibeamten in den Rücken getroffen zu werden, zu groß.
Mit grimmiger Miene legte auch der Inspektor seinen Revolver auf Jonathan an. »Ergeben Sie sich, Sir! Das Spiel ist aus.«
KAPITEL 24: DER FRANZOSE SCHLÄGT ZU
»Kutscher nimmt Rache! James E. Thorp, ein Motorwagenbesitzer, wurde heute in St. Louis von Ira Stansbury angeschossen. Stansbury fuhr mit seiner Kutsche die Straße entlang, als Thorp sich mit seinem Wagen näherte und hupte. Stansbury weigerte sich, Platz zu machen. Thorp rammte die Kutsche und drängte sie von der Straße. Daraufhin stoppte Stansbury, zog einen Revolver unter dem Sitz hervor und schoss den Wagenbesitzer in den Oberschenkel. Bei seiner Festnahme sagte Stansbury, er habe genauso viel Recht, auf einer Straße zu fahren, wie irgendein Automobil.«
– New York Times, 23. April 1897
23. April 1897, 17:58 Uhr GMT
England, fünf Meilen östlich und 4000 Fuß oberhalb von London
Mit majestätischer Langsamkeit schob sich die Gladius Dei durch den von schweren grauen Wolken verhangenen Himmel über London. Von Stein hatte die Motoren drosseln lassen, und so glitt das Luftschiff beinahe antriebslos durch ein Meer aus Grau.
»Ich liebe England. Selbst an guten Tagen ist hier schlechtes Wetter«, verkündete der Hauptmann, der, die Hände in die Hüften gestemmt, breitbeinig auf der Kommandobrücke stand und durch das Frontfenster in die trübe Suppe hinausblickte, die sie von allen Seiten umgab.
»Reizend«, sagte Lionida. Sie hielt sich am Kartentisch im hinteren Teil des Raumes auf und wartete, dass der Militär sie absetzte. Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass das Luftschiff irgendwo außerhalb der Stadt landen würde, um sie unbemerkt von Bord gehen zu lassen. Doch von Stein hatte darauf beharrt, sie bis ins Herz der britischen Hauptstadt zu bringen.
»Aber warum?«, hatte sie gefragt.
»Weil wir es können«, war seine selbstzufriedene Antwort gewesen.
Nun hatten sie ihr Ziel erreicht. Sehen konnte man zwar wenig, doch ihren Navigationsinstrumenten zufolge mussten sie sich in etwa auf Höhe des Westminster-Palastes befinden. Lionida konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie der Deutsche das riesige Luftschiff unbemerkt so nah an den Boden bringen wollte, dass sie auszusteigen vermochte. Aber von Stein lächelte nur, als sie diesen Zweifel in Worte fasste. »Sie werden sehen, Signora, dass die Gladius Dei auch für diesen Fall ausgestattet ist.« Er warf einen prüfenden Blick in einen Messingkasten, an dessen oberem Ende ein Okular wie von einem Fernglas befestigt war. Anschließend nickte er zufrieden. »Hier dürfte es gehen …«
»Ich steige aus?«, fragte die Magieragentin.
Der Offizier wandte sich zu ihr um. »Ja. Holen Sie alles, was Sie brauchen. Wir treffen uns am Eingang zum Salon.«
»Das wird nicht nötig sein. Ich bin bereits reisefertig, seit wir uns London genähert haben«, sagte Lionida.
»Umso besser. Dann folgen Sie mir, Signora Diodato.« Von Stein wechselte ins Deutsche und erteilte seinen Steuerleuten ein paar kurze Befehle. Danach führte er Lionida von der Brücke und durch den Hauptgang zum Heck der Gondel. Unterwegs liefen sie Scarcatore über den Weg.
»Schließen Sie sich mir an?«, wollte Lionida wissen.
Der Gelehrte schüttelte den Kopf. »Meine
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