Magierdämmerung 03 - In den Abgrund
und wir wurden – ohne zu begreifen, wie uns geschah – zu Magiern: Gamba, Jenkins und ich. Doch die erstaunlichste Veränderung betraf das Schiff selbst. Ich weiß nicht, wie ich es in Worte kleiden soll, aber durch die Magie und die Geister meiner Männer wurde das Schiff lebendig. Sein Rumpf befreite sich von den Zwängen der Wellen, seine Segel von denen des Windes. Es entwickelte die Fähigkeit, sich in einen schützenden Mantel aus Nebel zu hüllen und schneller über den Ozean dahinzugleiten als jedes andere Schiff der damaligen Zeit. Das meiste davon kann ich mir bis heute nicht erklären.« Der Holländer zuckte mit den Schultern.
»Nun, jedenfalls wurde mir sehr rasch bewusst, dass ich mit diesem Schiff in keinen Hafen mehr würde einlaufen können«, fuhr er fort. »Die große Zeit der Hexenverfolgung in Europa war zwar seit hundert Jahren vorüber und wir lebten laut unseren Gelehrten in einem Zeitalter der Aufklärung und der Vernunft, aber ich kenne die Menschen. Machtgier und Furcht sind ein starker Antrieb zu Missetaten – und ein Schiff wie das meine würde von beidem reichlich erwecken. Also gaben wir unsere Fahrt nach Ostindien auf und versteckten uns fortan auf dem Meer. Als unsere Vorräte aufgebraucht waren, gingen wir nachts heimlich an Land, um zu stehlen, was wir zum Leben benötigten. Außerdem brachten wir Geisterschiffe auf, die keinen von uns mehr schrecken konnten, nachdem wir selbst zu etwas derart Widernatürlichem geworden waren.«
»Und dabei wurden Sie von anderen Schiffern gesehen«, mutmaßte Jonathan.
Der Holländer nickte. »Ja, gelegentlich ließ es sich nicht vermeiden. Man sichtete uns aus der Ferne: ein fliegendes Schiff, das gegen den Wind zu segeln vermag, das selbst bei Flaute unter vollen Segeln steht und das fährt, obwohl keine Menschenseele an Bord zu sein scheint.« Ein spöttisches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Sie können sich vorstellen, dass solcherlei Umstände prachtvollen Stoff für Seemannsgarn abgeben. Zu dem bisschen Wahrheit, das die Seeleute zu Gesicht bekamen, gesellte sich viel Dichtung. Man hielt das Erscheinen des Fliegenden Holländers, wie das Schiff auf einmal genannt wurde, für ein böses Omen. Man bezichtigte seinen Kapitän, also mich, ein Gotteslästerer zu sein, der vom Himmel zum ewigen Kreuzen auf See verdammt worden sei. Man erzählte sich, dass wir aus den Tiefen des Meeres auftauchten und dass unser Deck übersät mit Leichen sei. Ich habe heimlich in Hafenspelunken so viele Geschichten mit angehört, eine abenteuerlicher als die andere … «
Jonathan nickte verständnisvoll. Er kannte diese Geschichten auch, wenngleich nur in ihrer literarischen Bearbeitung.
»Wäre das alles gewesen, ich hätte es wohl hingenommen«, fuhr der Holländer fort. »Doch leider hatte all dieses Gerede neben dem Umstand, dass es uns eine Rückkehr in die menschliche Gesellschaft vollständig unmöglich machte, noch eine zweite unerfreuliche Folge: Ein Orden frömmelnder Magierjäger wurde auf uns aufmerksam. Zuerst merkten wir es gar nicht. Als das erste Schiff am Horizont bei unserem Anblick nicht abdrehte, sondern unter vollen Segeln zur Verfolgung ansetzte, hielt ich die Kerle noch für tolldreiste Glücksritter. Doch die Nachstellungen häuften sich, und es wurde klar, dass uns jemand aufzubringen versuchte. Nur durch Zufall erfuhr ich, wer unser Feind war: das Officium contra Magiae , die Magie-Inquisition des Vatikans.«
Davon hatte Jonathan noch nie gehört. »Es gibt eine Inquisition, die gezielt Magieanwender jagt?« Sein Leben schien von einem Moment zum nächsten noch ein klein wenig gefährlicher geworden zu sein.
»Zumindest jagt sie uns gezielt«, erwiderte der Holländer. »Deshalb führen wir ein Leben, verborgen hinter Nebeln weit draußen auf See: Gamba, Jenkins, das Schiff, ich und Meister Fu, den wir mitsamt seinem Affen aus einem Beiboot mitten auf dem Indischen Ozean bargen und der sich kurioserweise ebenfalls als Magiekundiger erwies. Fu war es auch, der uns mit meinem alten Freund McKellen zusammenbrachte, aber das ist eine andere Geschichte … Und nun sind Gamba, Jenkins und McKellen tot, und das Schiff ist so schwer verletzt, dass es vielleicht nie wieder gesund wird. Wie grausam kann das Schicksal zu einem einzelnen Mann eigentlich sein?« Er leerte sein Glas und schenkte sich zum dritten Mal nach.
Jonathan presste die Lippen zusammen. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
In diesem
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