Magnus Jonson 01 - Fluch
haben.
Sechs Monate nach Gauks Tod brachte Ingileif einen Sohn zur Welt, Högni.
Aber der Ring fand keine Ruhe. Ein Jahrhundert später gab es einen gewaltigen Vulkanausbruch, und Hekla begrub Gauks Hof in Stöng unter einer Ascheschicht, sodass er für immer verloren war.
Der Ring ist noch in den Hügeln bei Stöng verborgen. Eines Tages wird er zum Vorschein kommen, so wie er zu der Zeit von Ulf Beinstutzer aus dem Rhein kam. Wenn es so weit ist, darf er nicht wieder in die Hände eines bösen Mannes fallen. Er muss in den Schlund von Hekla geworfen werden, so wie die samische Zauberin es bestimmt hat.
Bis dahin soll diese Saga von den Nachkommen Högnis geheim gehalten werden.
Magnus reichte das letzte Blatt an Árni weiter, der noch nicht so weit war. Nur verständlich, da Englisch nicht seine Muttersprache war. Magnus schaute über den See auf die zwei kleinen Inseln in der Mitte.
Er versuchte, seine Aufregung zu verbergen. Könnte die Saga echt sein? Wenn ja, dann wäre sie einer der größten Funde in der isländischen Literaturgeschichte. Nein, noch mehr: Ihre Entdeckung würde in der ganzen Welt Aufsehen erregen.
Magnus war sich ziemlich sicher, dass sie, falls tatsächlich echt, bisher unbekannt war. Es gab zweifelsohne viele kleinere Sagas, von denen Magnus noch nie gehört hatte, aber dies war keine unwichtige. Der Ring von Andwari und der Umstand, dass Gauk als Besitzer von Stöng die Hauptfigur war, hätten dafür gesorgt, dass die Geschichte in Island und darüber hinaus bekannt geworden wäre. Magnus erkannte zwei Figuren aus seiner geliebten Njáls Saga wieder: Njál selbst und Ásgrím Ellíða-Grím.
Aber war sie wirklich echt? In der Übersetzung war das schwerzu beurteilen, doch der Stil wirkte authentisch. Isländische Sagas waren sprachlich nicht so kunstvoll gestaltet wie die mittelalterlichen Erzählungen im übrigen Europa. Im Idealfall waren sie kurz, bündig und sachlich, glichen vom Stil eher einem Hemingway als einem Tennyson. Anders als im Rest Europas war im mittelalterlichen Island nicht nur der Klerus des Lesens mächtig, und es gab nicht nur Bücher auf Latein. Island war das Land der weit verstreuten Bauernhöfe, und die fern von den Priestern lebenden Bauern mussten an den langen Winterabenden in der Lage sein, zu ihrem eigenen Seelenheil und dem ihres Haushalts in der Bibel zu lesen. Die Sagas waren historische Romane, die für die Lektüre eines Massenpublikums geschrieben wurden, nicht nur für den mündlichen Vortrag.
Wenn diese Saga echt war, hatten Gauks Nachkommen sie über die Jahrhunderte erfolgreich geheim gehalten. Bis heute, bis ein unbedeutender Isländisch-Professor es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sie der ganzen Welt zu zeigen. Magnus hatte keinen Zweifel mehr, dass es diese Saga war, die Agnar Steve Jubb und dem modernen Isildur hatte verkaufen wollen.
Die Hinweise auf den Herrn der Ringe in Gauks Saga lagen auf der Hand, viel deutlicher als in der Völsunga-Saga. Zum einen war der »Zauber« des Rings mächtiger und genauer beschrieben. Auch wenn nicht von Unsichtbarkeit die Rede war, nahm der Ring seinen Hüter in Besitz, richtete ihn zugrunde und sorgte dafür, dass er seine Freunde verriet oder sogar tötete. Und er verlängerte das Leben seines Trägers. Ísildurs Aufgabe, den Ring in die Hekla zu werfen, besaß auffällige Parallelen zu Frodos Auftrag, Saurons Ring zum Schicksalsberg zu bringen.
Die Herr der Ringe -Foren im Internet würden jahrelang beschäftigt sein, wenn die Saga bekannt würde. Falls sie bekannt würde. Vielleicht hatte der moderne Isildur eher vor, sie irgendwo zu verstecken, seine ganz persönliche Wikingerbeute.
Magnus wunderte sich nicht, dass er bereit war, so viel Geld zu bezahlen.
Aber vor ihnen lag nur eine englische Übersetzung. Es musste ein isländisches Original oder wohl eher eine Kopie davon geben, anhand derer Agnar seine Übersetzung erstellt hatte. Magnus war überzeugt, dass Baldur eine echte Saga auf achthundert Jahre altem Pergament erkannt hätte, doch eine moderne isländische Kopie konnte ihm durchaus entgangen sein.
Während Árni die letzten Seiten las, durchsuchte Magnus die übrigen Unterlagen in Agnars Büro.
Nichts.
»Vielleicht ist sie in Agnars Büro an der Uni?«, schlug Árni vor. »Oder jemand anders hat sie«, überlegte Magnus.
Er schaute aus dem Fenster über den See zu den flachen schneebedeckten Bergen in der Ferne. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
»Komm, Árni, wir
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