Magnus Jonson 01 - Fluch
leid, wenn ich zu direkt bin mit meinen Fragen. Hab ich mir schon angewöhnt.«
»Sieht so aus«, sagte Ingileif. Tómas hatte immer schon die Fähigkeit besessen, das Vertrauen anderer Menschen zu gewinnen. Er wirkte so harmlos. Doch irgendetwas mahnte Ingileif, vorsichtigzu sein. »Nein, war nur ein lockeres Treffen«, sagte sie. »Wie jetzt mit dir.«
Tómas lächelte. »Hör mal, ich muss los. Am Samstag gebe ich eine Party, hast du Lust zu kommen?«
»Wird die so wild wie deine Partys früher?«, fragte Ingileif.
»Noch wilder. Hier, das ist meine Adresse. Bin vor ein paar Monaten umgezogen.« Tómas holte eine Visitenkarte mit dem Logo von RUV, dem staatlichen Fernsehsender, hervor und schrieb seine Privatadresse auf der Þingholtsstræti darauf.
Als er das Café verließ, zog er ein oder zwei verstohlene Blicke von Gästen auf sich. Und Ingileif stellte sich nur eine Frage:
Was war das denn gerade gewesen?
Vigdís nahm die angebotene Tasse Kaffee entgegen und begann zu trinken. Es war ihre fünfte an diesem Tag. Wenn man in Island Personen befragte, musste man viel Kaffee vertragen können.
Die Frau ihr gegenüber war Ende dreißig, trug Jeans und einen blauen Pullover. Sie hatte ein intelligentes Gesicht und ein freundliches Lächeln. Sie saßen in einem hübschen Haus in Vesturbær, einem schicken Stadtteil von Reykjavík, westlich des Zentrums. Der Range Rover der Familie verstellte den Blick auf die ruhige Straße.
»Es tut mir leid, dass ich noch einmal deine Zeit in Anspruch nehmen muss, Helena«, begann Vigdís. »Ich weiß, dass du schon viele, viele Fragen von meinen Kollegen beantwortet hast. Aber ich würde gern alles noch einmal mit dir durchgehen, woran du dich vom Tag des Mordes und den Tagen davor erinnern kannst. Jede noch so unbedeutende Kleinigkeit.«
Helena war mit ihrer Familie in einem der Ferienhäuser am Ufer des Þingvellir-Sees gewesen. Es waren ihre Kinder, die Agnars Leiche entdeckt hatten. Nach dem Gespräch mit Helena wollte Vigdís ihren Mann im Büro seiner Versichungsfirma in Borgartún aufsuchen.
»Natürlich. Obwohl ich nicht glaube, dass ich dir viel Neues erzählen kann.«
Bei den letzten Worten runzelte Helena die Stirn. Vigdís bemerkte es.
»Was ist?«
»Ach ... nichts. Ist nicht wichtig.«
Vigdís lächelte einschmeichelnd. »Das lass mal meine Sorge sein«, sagte sie und zeigte Helena, dass die Seiten in ihrem Notizblock mit säuberlicher Schrift bedeckt waren. »Dieses Buch ist voll mit nebensächlichen Dingen. Aber irgendeine Kleinigkeit wird sich als sehr wichtig herausstellen.«
»Mein Mann meinte, wir sollten es nicht erzählen.«
»Warum nicht?«, fragte Vigdís.
Helena lächelte. »Ach, egal, entscheide du. Unsere fünfjährige Tochter Sara Rós hat uns gestern Morgen beim Frühstück davon erzählt. Mein Mann glaubt, sie hätte geträumt.«
»Was hat sie denn gesagt?«, fragte Vigdís.
»Sie behauptet, sie hätte in jener Nacht zwei Männer im See spielen sehen.«
»Im Þingvellir-See?«
»Ja.«
»Das klingt interessant.«
»Das Problem ist nur, dass Sara Rós gern Geschichten erfindet. Manchmal will sie damit auf sich aufmerksam machen. Manchmal macht sie es nur so aus Spaß.«
»Verstehe. Ich denke, ich rede mal mit ihr. Natürlich nur mit deiner Erlaubnis.«
»In Ordnung. Solange du im Hinterkopf hast, dass sie sich das Ganze ausgedacht haben könnte. Aber du musst wohl warten, bis sie aus dem Kindergarten zurückkommt.«
»Nein«, sagte Vigdís. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt sofort mit ihr sprechen.«
Der Kindergarten, den Helenas Tochter besuchte, war nur wenige hundert Meter vom Haus entfernt. Nur ungern überließ die Leiterin ihr Büro Vigdís. Helena ging ihre Tochter holen.
Sie war ein typisch isländisches Mädchen von fünf Jahren: strahlend blaue Augen, rosa Wangen und krauses blondes Haar, das fast weiß wirkte.
Als sie ihre Mutter erblickte, erhellte sich ihr Gesicht. Das Mädchen kauerte sich neben sie auf das Sofa im Büro der Leiterin. »Hallo«, sagte Vigdís. »Ich heiße Vigdís und bin von der Polizei.« »Du siehst aber gar nicht aus wie ein Polizist«, sagte Sara Rós. »Das liegt daran, dass ich bei der Kriminalpolizei bin. Ich trage keine Uniform.«
»Kommst du aus Afrika?«
»Sara Rós!«, rief ihre Mutter.
Vigdís lächelte. »Nein. Ich komme aus Keflavík.«
Das kleine Mädchen lachte. »Das ist nicht in Afrika. Da ist der Flughafen, wenn wir in Urlaub fahren.«
»Stimmt«, sagte
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