Magnus Jonson 02 - Wut
Gleichgewicht – auf sich selbst.
Er holte sein Telefon hervor und wählte im Gehen die Nummer der britischen Kollegin.
»Piper.«
»Hier ist Magnus.«
»Es gibt leider nichts Neues über Virginie Rogeon. Ihr Mann hat sich immer noch nicht bei seinem Arbeitgeber gemeldet.«
»Scheiße! Ich brauche wirklich was, um Ísak mit diesem Fall in Verbindung zu bringen.«
»Das kommt schon noch.«
»Dann ist es vielleicht zu spät.«
»Wie meinst du das?«
»Der Nationale Polizeichef von Island hat einen Anruf von eurer Antiterroreinheit bekommen.«
»Oh.«
»Oh. Allerdings.«
»War er sauer?«
»Kann man so sagen. Ich bin aus dem Fall raus.«
»Was? Ach, Magnus, das tut mir leid. Hast du einen Einlauf bekommen?«
»Ich weiß nicht, was genau ein Einlauf sein soll, aber er war deutlich angepisst. Sharon, warum hast du das getan, obwohl ich dich ausdrücklich gebeten habe, es nicht zu tun? Ich wusste , dass es so kommen würde. Ich dachte, ich könnte dir vertrauen.«
»Ach, komm, Magnus, denk doch mal nach! Ich hatte keine andere Wahl. Wenn auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit bestand, dass du eine Spur hattest, hätte ich wie der letzte Idiot dagestanden, wenn ich es meinen Leuten hier nicht erzählt hätte. Keine Sorge, sie nehmen es nicht allzu ernst, sonst säßen sie längst alle im Flugzeug nach Reykjavík. Sie konzentrieren sich momentan auf Holland.«
»Auf Holland?«
»Ja. Ein Bauer in der Normandie hat einen Tag vor dem Mordversuch einen Mann gesehen. Er schnüffelte in dem Wald herum, von dem aus die Schüsse abgegeben wurden. Der Bauer dachte, der Typ wollte pinkeln gehen. Aber sie fanden ein Loch in der Erde, das groß genug für ein Gewehr war; man nimmt an, dass dieser
Mann es dort vergraben hat. Das Motorrad hatte ein holländisches Nummernschild.«
»Konnte der Bauer den Mann beschreiben?«
»Nicht sehr gut. Nur dass er eine hellblaue Jacke trug.«
»Was haben denn die Holländer gegen euren Schatzkanzler?«, fragte Magnus.
»In Holland gibt es eine muslimische Gemeinschaft. Obwohl es genauso gut jemand auf der Durchreise gewesen sein kann.«
»Al-Qaida?«
»Das ist bisher die bevorzugte Theorie. Auch wenn al-Qaida die Leute eigentlich lieber in die Luft jagt statt sie zu erschießen.«
»Interessant.«
»Es tut mir wirklich leid, Magnus. Ich weiß es zu schätzen, dass du mich ins Vertrauen gezogen hast.«
»Red keinen Schwachsinn, Sharon! Ich habe dir vertraut, und du hast mich verraten. So einfach ist das.«
»Ich habe getan, was ich für richtig hielt.«
»Ja, ja. Egal, halt mich auf dem Laufenden. Und sprich mit Vigdís, sie sitzt hier immer noch an dem Fall. Besonders, wenn Ísak eindeutig identifiziert wird. Ich könnte mir vorstellen, dass er in London die Vorbereitungen für jemand anderen getroffen hat. Für denjenigen, der abdrückte.«
»Verstehe, was du meinst«, sagte Sharon. »Behalte ich im Hinterkopf. Noch mal Entschuldigung, Magnus.«
»Ja.« Er legte auf.
Sharons Zerknirschung milderte seine Wut ein wenig. Er mochte sie. Was für ein Wort hatte sie noch gleich verwendet? Einlauf? Hatte er in diesem Zusammenhang noch nie gehört.
Was ihn an der Standpauke des Polizeichefs am meisten störte, war der Vorwurf, er wäre kein richtiger Isländer. Das nagte an Magnus, weil es teilweise stimmte. Doch er wusste, selbst wenn er sein gesamtes Leben in diesem Land verbracht hätte, hätte er Sharon auf die Möglichkeit hingewiesen, dass Ísak in der Normandie gewesen sein könnte. Die Wahrheit herauszufinden wäre für
ihn immer wichtiger als politische Eitelkeiten, ob in Boston oder Island.
So war er nun einmal.
Was dachte sich der Polizeichef überhaupt? Magnus konnte es nicht ausstehen, wenn ein Vorgesetzter vom »großen Ganzen« sprach, vom »politischen Standpunkt«. Das Recht konnte darauf keine Rücksicht nehmen. Das Gesetz tat es auch nicht. Wenn jemand gegen ein Gesetz verstieß, insbesondere wenn jemand ermordet wurde, dann war es Magnus’ Pflicht, den Täter der Gerechtigkeit zuzuführen. Und zwar nicht nur Magnus’ Pflicht, sondern die von allen.
So einfach war das. Sobald die Politik den Vorzug gegenüber dem Gesetz bekam, brach alles zusammen. Das hatte er schon in Boston gesehen, und jetzt geschah es auch in Island.
Magnus fragte sich, ob der Polizeichef seine Drohung wahr machen würde, ihn nach Amerika zurückzuschicken. Vielleicht wäre das sogar gut. Möglicherweise hatte der Polizeichef recht, und Magnus war kein richtiger Isländer.
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