Magnus Jonson 02 - Wut
gnadenlos sein. Das weißt du genau. Du kennst dich in der Geschichte aus. Lenin, Trotzki, Mao, Che Guevara, Fidel Castro, selbst der ANC in Südafrika. Es gibt Zeiten, da müssen Unschuldige sterben, damit die Revolution erfolgreich sein kann. Klar versucht man, die Zahl dieser Opfer so gering wie möglich zu halten. Aber man schreckt nicht davor zurück. Denn dann lässt man das Volk im Stich.«
»Ja, aber wir leben in Island, nicht in Russland.«
»Sindri, ich habe dein Buch gelesen. Dreimal. Es ist gut, sehr gut. Mein Vater ist Mitglied der Unabhängigkeitspartei. Er war Minister. Ich habe die Selbstgefälligkeit der herrschenden Kaste in Island gesehen, ich habe verfolgt, wie sie sich von den Kapitalisten verführen ließ, wie eine der anständigsten, egalitärsten Gesellschaften Europas sich in eine der ungerechtesten verwandelte.
Mein Vater und seine Kumpane sind dafür verantwortlich. Der Kapitalismus ist eine Krankheit, und unser Land ist leider sehr stark davon betroffen. Wir sind dem Tode nahe.«
Sindri runzelte die Stirn.
»Da kann man nicht zimperlich sein, Sindri. Gerade du solltest das wissen. Du hast mir das beigebracht. Von dem Augenblick an, als der Banker Gabríel Örn starb, hatten wir eine Grenze überschritten. Wir können nicht mehr zurück, nicht nach der Sache mit Óskar Gunnarsson. Wir haben uns verpflichtet. Zumindest tun wir das alles für einen bestimmten Zweck. Diesen Zweck kannst du jetzt nicht sabotieren. Sonst wird alles, was wir sonst noch getan haben, reine Zeitverschwendung. Dann werden wir wirklich Mörder sein.«
Sindri schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. »Ich trage nicht dazu bei, jemanden umzubringen.« Er korrigierte sich: »Jemanden, der unschuldig ist.«
Ísak lächelte. »Schon gut. Dann kümmere ich mich darum. Ich muss sowieso untertauchen, da kann ich genauso gut nach Grundarfjörður hochfahren. Wenn ich es nicht tue, gibt es keine Revolution. Der Kapitalismus wird Island zerquetschen. Und das wird unsere Schuld sein. Wir sind dafür verantwortlich. Willst du mich vielleicht aufhalten?«
Sindri antwortete nicht. Er wich Ísaks Blick aus.
»Ich gehe jetzt«, sagte er. »Du wartest noch zehn Minuten.«
30
Die Krankenschwester zu finden erwies sich als einfach. Árni zeigte der Frau am Empfang des Nationalkrankenhauses das Foto. »Ach, das ist Íris«, sagte sie. Innerhalb weniger Minuten stand Árni in einem der endlosen Gänge in einer ruhigen Ecke und sprach mit der Frau mit dem runden Gesicht und der Stupsnase.
»Ich kann mich an ihn erinnern«, sagte die Krankenschwester. »Er hatte Tränengas in die Augen bekommen. Das Zeug ist nicht witzig, er hatte große Schmerzen. Aus irgendeinem Grund wollte er, dass ich zwei rohe Steaks hole und ihm die auf seine Augen lege. Er meinte, er wüsste, wo ich die bekommen könnte. Er war ziemlich hartnäckig.«
»Hast du es getan?«, fragte Árni.
»Natürlich nicht«, erwiderte sie und sah ihn an, als hätte er nicht alle beisammen.
Árni lächelte aufmunternd. So etwas passierte ihm oft. Lächeln und weitermachen, das war sein Motto.
»Ich habe ihm eine Lösung aus Wasser und Natriumbisulfat verabreicht. Die Wirkung von Tränengas lässt nach wenigen Minuten automatisch nach.«
»Hat der Junge dir seinen Namen genannt?«, wollte Árni wissen.
»Kann schon sein. Aber wenn, dann weiß ich ihn nicht mehr.«
»Du hast ihn nirgends aufgeschrieben? Keine Notizen gemacht?«
»Nein. Da wird einer nach dem anderen behandelt.«
Schade, dachte Árni. »Kennst du einen von denen hier?«, fragte er und zeigte der Krankenschwester Fotos von Harpa, Björn und Sindri.
Íris studierte sie. »Nein«, sagte sie. »Allerdings habe ich den großen
Typ mit dem Pferdeschwanz eventuell schon mal gesehen. Er könnte bei einigen Kundgebungen rumgelaufen sein.«
»Aber du hast nicht gesehen, dass er mit dem Jungen sprach?«
»Nein.« Die Frau schüttelte den Kopf.
Árni zog eine weitere Aufnahme hervor, ein Standbild aus dem Video des Staatssenders, auf dem Sindri hinter der Krankenschwester stand, während sie den Jungen versorgte.
»Ich sehe ihn da drauf, aber damals ist er mir nicht aufgefallen«, sagte sie. »Hab auch nicht gehört, was er gesagt hat.«
Árni sammelte die Fotos wieder ein. »Danke für deine Hilfe.« Als er sich von der Krankenschwester entfernte, dachte er über den nächsten Schritt nach. Er war der Identifizierung des Jungen noch nicht viel nähergekommen.
Plötzlich hatte er einen
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