Magnus Jonson 02 - Wut
wusste, dass kleine Kinder oft logen, aber Markús nicht. Er log niemals, zumindest nicht bei ihr. Woher hatte er diese Ehrlichkeit? Nicht von seinem Vater, so viel stand fest.
Und auch nicht von ihr.
»Na gut, dann lauf!«
Harpa ging ins Wohnzimmer und schob dort die DVD in das Gerät.
Dann kehrte sie in die Küche zurück und stellte das Geschirr in die Spülmaschine. Sie aß gern zusammen mit ihrem Sohn, auch wenn es noch früh war.
Aus dem Küchenfenster konnte sie über die Faxaflói-Bucht blicken. Rechts von ihr, hinter den gewaltigen Öltanks, lag Reykjavík, ein Meer bunter Häuser, über denen die Hallgrímskirkja mit ihrem majestätischen Turm wachte. Genau gegenüber, auf der anderen Seite der Bucht, erhob sich der Berg Esja, ein langgestreckter Granitklotz, zu dieser Jahreszeit noch ohne Schnee. Links befand sich die kleine Stadt Akranes am Ende einer Halbinsel. Eine schmale Rauchfahne stieg aus dem hohen Schornstein ihres Zementwerks.
Harpas Haus war am nordöstlichen Rand des wohlhabenden Vororts Seltjarnarnes gelegen, auf einem in die Bucht ragenden Felsvorsprung. Das Haus war aufgrund der Aussicht teuer gewesen,
aber Harpa hatte eine beachtliche Hypothek aufgenommen, eine Hypothek, die sie jedoch mit ihrem Gehalt als Bankangestellte ohne weiteres bedienen konnte. Wie so viele Isländer hatte sie ein Darlehen gewählt, bei dem die Kreditsumme an die Inflation gekoppelt war. Der Vorteil bestand in niedrigeren monatlichen Raten.
Der Nachteil war, dass der Wert des Kredits bei wachsender Inflation schnell den Wert des Hauses überstieg, zum Beispiel nach einer erheblichen Entwertung der Währung.
Da Harpa kein Einkommen mehr hatte, konnte sie die Raten nicht mehr zahlen. Das Haus war inzwischen weniger wert als die Hypothek. Sie würde es verlieren, daran war nicht zu rütteln. Sie wohnte hier nur noch wegen des zeitweiligen Erlasses der Regierung, der die Banken zwang, die Kündigung von Hypotheken bis November zurückzustellen.
Wie würde es danach weitergehen? Vielleicht wäre die Bank nachsichtig. Oder aber Harpa würde am Ende mit Markús bei ihren Eltern wohnen, wie eine halbwüchsige Mutter, die gerade mit der Schule fertig war.
Das aber auch nur, wenn ihre Eltern ihr eigenes Haus behalten konnten. Harpa wusste, dass sie finanzielle Probleme hatten – schließlich war sie selbst dafür verantwortlich –, sie wusste nur nicht, wie schlimm es wirklich aussah. Und sie hatte zu große Angst, um nachzufragen.
Warum hatte sie bloß diese dämliche Hypothek aufnehmen müssen? Sie hatte einen Master in Betriebswirtschaftslehre von der Universität Reykjavík und gewusst, dass ein theoretisches Risiko bestand. Und doch hatte sie sich einfach mitreißen lassen von jenem kopflosen Optimismus, der Island ergriffen hatte.
Harpa schaltete die Nachrichten an. Verschiedene Minister hatten mit Rücktritt gedroht, weil sich die Regierung bereit erklärt hatte, von Großbritannien geliehene vier Milliarden Euro zurückzuzahlen, um die ausländischen Anleger von Icesave zu entschädigen, dem in London ansässigen Tochterunternehmen einer isländischen Bank.
Plötzlich hörte Harpa einen ihr nur allzu vertrauten Namen.
»Der isländische Banker Óskar Gunnarsson, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Ódinsbanki, wurde in seinem Haus in London tot aufgefunden. Er wurde erschossen.«
Harpa erstarrte. Das heiße Wasser lief über die Schüssel, die sie spülen wollte.
»Gegen Óskar Gunnarsson wurde von den isländischen Behörden wegen angeblichen Betrugs in der Ódinsbanki vor ihrer Verstaatlichung vor knapp einem Jahr ermittelt. Noch ist nicht bekannt, ob der Mord mit der Beschuldigung in Zusammenhang steht.«
Harpa holte ihren Laptop und klappte ihn auf, um weitere Informationen zu suchen. Während sie darauf wartete, dass der Computer hochfuhr, dachte sie an den charismatischen Banker. Aber sie musste auch an Gabríel Örn denken. Ein ermordeter Banker. Und ein zweiter.
Würde es irgendwann eine Zeit geben, in der sie nicht an Gabríel Örn dachte?
Sie schaute auf der Website der BBC nach. Dort fand sie weitere Auskünfte. Das Haus stand in Onslow Gardens in Kensington. Harpa wusste noch, dass Óskar es 2006 kurz vor Ablauf ihres zweijährigen Aufenthalts in London gekauft hatte. Damals arbeitete er in Reykjavík, besuchte aber oft Großbritannien. In der vergangenen Nacht war jemand in sein Haus eingedrungen und hatte ihn erschossen. Seine Freundin sei zu dem Zeitpunkt zu Hause gewesen, aber
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