Magnus Jonson 02 - Wut
dunkel, als Harpa über die Nordurströnd zur Bäckerei ging. Sie hatte den Job jetzt seit zwei Monaten. Im Sommer hatte sie den Weg gern zurückgelegt, wenn die Lichter von Reykjavík schläfrig blinzelten und die Stadt vor ihr langsam erwachte. Wenn die Sonne über den Bergen im Osten aufging und ein goldenes Band über die Bucht warf. Doch an diesem Morgen war die Dämmerung nur ein stahlblauer Streifen am Horizont unter den Wolken.
Ein kalter Wind wehte schneidend vom Meer herein. Harpa freute sich schon auf den tröstlichen warmen Duft des Brotes aus den Öfen der Bäckerei.
Als die Ódinsbanki sie vor die Tür gesetzt hatte, war sie einige Monate wie gelähmt gewesen und hatte sich mit ihrem Sohn in ihr Haus zurückgezogen. Doch irgendwann wurde ihr klar, dass sie neue Arbeit finden musste. Sie dachte an die Bäckerei, die sie jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit aufsuchte. Dort mochte man Harpa. Sie war überzeugt, dass man sie beschäftigen würde, aber dass sie sicherlich noch etwas Besseres finden könnte.
Es stellte sich heraus, dass dem nicht so war. Nach ein paar Monaten ergebnisloser Suche ging Harpa daher auf Dísa zu, die Frau, der die Bäckerei gehörte. Dísa war freundlich, aber bestimmt: Es gebe keine freie Stelle. Erst da begriff Harpa die ganze Wahrheit. In der kreppa gab es keine Arbeit für jemanden wie sie. Null.
Sie versuchte es überall; erst Ende Juni meldete sich Dísa schließlich bei ihr und sagte, es gebe bald eine freie Stelle, Harpa könne bei ihr anfangen. Es war eine gute Arbeit: Die Leute waren freundlich, und die Arbeitszeiten so flexibel, dass Harpa Zeit mit Markús verbringen konnte. Am frühen Morgen kümmerten sich ihre Eltern um ihn und brachten ihn in einen Kinderhort. Und Harpa konnte ein wenig Geld verdienen.
Jedoch nicht annähernd genug, um die Hypothek abzuzahlen.
Sie musste wieder an Óskars Tod denken. Und an Gabríel Örn. Wieder spürte sie die eiserne Faust in ihrem Magen. Harpa blieb stehen. Hielt das Gesicht in den vom Meer hereinwehenden Wind. Atmete mehrmals tief durch. Und weinte.
Björn. Sie musste Björn sehen. Er war immer schon früh unterwegs, auf der Suche nach Arbeit auf einem Fischerboot. Harpa holte ihr Handy hervor und wählte seine Nummer.
Er meldete sich sofort. »Hi, Harpa, wie geht’s dir?«
»Nicht so gut.« Im Hintergrund hörte sie die Geräusche von Motor und Wellen. Manchmal hatte er Empfang auf dem Handy, wenn er draußen auf See war. »Bist du auf Fang?«
»Wir fahren gerade raus. Was gibt’s?«
»Hast du die Nachrichten gesehen? Das mit Óskar Gunnarsson?«
»Diesem Banker? Ja. Kanntest du ihn?«
»Flüchtig.«
»War das einer von den Schweinen, die dich rausgeworfen haben?«
»Glaube schon. Aber …«
»Aber was?«
Harpa schluckte. »Dadurch kommt einfach die ganze Sache mit Gabríel Örn wieder hoch.«
»Ja.« Björns Stimme war verständnisvoll. »Ja, das glaube ich.«
»Björn, ich frage dich das wirklich nur ungern, aber kannst du nach Reykjavík kommen?«
»Das könnte etwas schwierig werden. Wir laufen zwar heute Abend wieder im Hafen ein, aber morgen Nachmittag bin ich noch mal für ein paar Tage draußen. Sonntag vielleicht?«
»Könntest du nicht vielleicht doch noch spät heute Abend kommen? Ich muss dich wirklich sehen.« Von Grundarfjörður bis zu Harpa waren es zweieinhalb Stunden, auch wenn Björn es mit seinem Motorrad erheblich schneller schaffen konnte. Dennoch war die Strecke nach einem Tag auf See eine lange Fahrt.
»Okay«, sagte Björn. »Gut, ich komme. Wird zwar spät, aber ich komme.«
»Danke, Björn.« Harpa spürte, dass sie wieder weinen musste. »Ich brauche dich wirklich. Du bist der Einzige, mit dem ich darüber reden kann.«
»Okay, Harpa, schon gut. Glaub mir, ich verstehe das. Wir sehen uns heute Abend. Ich rufe kurz durch, wenn ich auf dem Weg bin.«
»Ich liebe dich«, sagte Harpa.
»Ich liebe dich auch.«
5
»Guten Morgen, Magnús.«
Baldurs Tonfall war eisig, als er Magnus in seinem Büro begrüßte. Zwei weitere Kollegen, Árni und Vigdís Audarsdóttir, warteten bereits.
Es hatte sich als bemerkenswert einfach für Magnus erwiesen, mit dem Fall betraut zu werden. Das größte Problem hatte darin bestanden, den Mut aufzubringen, um Chief Superintendent Þorkell zurückzurufen.
Am Telefon war Þorkell sachlich gewesen, auch wenn er das Gespräch mit einem Seitenhieb begann: »Ah, Magnus, du hast länger gebraucht, als mir glauben gemacht wurde.«
»Also, es tut mir
Weitere Kostenlose Bücher