Magnus Jonson 02 - Wut
ihr euch direkt nach Gabríel Örns Tod sofort wieder getroffen? Ich dachte, wir wären uns einig gewesen, uns gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Damit die Polizei uns nicht miteinander in Verbindung bringen kann.«
»Nicht sofort danach. Ich meine, es war im Juni. Ich war eines Abends mit meinem Bruder was trinken, im Grand Rokk. Da traf ich zufällig Sindri. Am nächsten Tag verabredeten wir uns mit Ísak.
Wir waren alle derselben Meinung, nämlich dass es eigentlich gar nicht schlimm war, was mit Gabríel Örn passiert war. Dass er es verdient hatte. Und andere es auch verdienten.«
»Deshalb bist du nach Frankreich geflogen. Aber wenn du nicht auf Julian Lister geschossen hast, was hast du dann da gemacht?«
»Alles vorbereitet. Sindris Freunde aus der Drogenszene hatten Kontakte in Amsterdam, über die wir ein Gewehr und ein Motorrad besorgt haben. Ich musste mit ihnen sprechen und ihnen das Geld geben. Dann habe ich mir Julian Listers Haus in der Normandie angesehen und das Gewehr vergraben. So was Ähnliches hat Ísak in London gemacht.«
»Geld geben? Woher hattest du denn das Geld?«
»Das meiste war von Ísak. Keine Ahnung, woher er es bekommt. Vielleicht von seinen Eltern?«
»Und du willst mir nicht sagen, wer abgedrückt hat?«
»Nein.«
Schweigen. »Aber dir ist schon klar, dass es Mord ist, was du getan hast, oder? Was ihr alle getan habt.«
Björn seufzte. »Ich glaube nicht, Harpa. Das war was anderes.«
»Wie soll es denn kein Mord sein?«
»In Island sind schon immer Menschen vor ihrer Zeit gestorben. Es ist ein gefährliches Land. Bauern sterben in Schneeverwehungen, wenn sie ihre Schafe suchen. Fischer ertrinken im Meer.«
»Aber doch heutzutage nicht mehr«, widersprach Harpa. »Es ist Jahre her, dass zuletzt ein Bauer an Unterkühlung gestorben ist. Und mein Vater hat auf seinem Schiff nie jemanden verloren.«
»Er hatte Glück«, sagte Björn. »Ich habe meinen älteren Bruder und meinen Cousin auf dem Schiff meines Onkels verloren, als es sank. Es überlebten nur er und zwei weitere Mitglieder der Crew.«
Harpa hob die Augenbrauen. »Das wusste ich nicht.«
»Damals war ich vierzehn«, sagte Björn. »Eigentlich wäre ich auch auf dem Schiff gewesen, aber unsere Fußballmannschaft hatte ein wichtiges Meisterschaftsspiel. Seitdem habe ich Schuldgefühle.«
»Das hast du mir nie erzählt.« Björn sah Verständnis in Harpas Augen aufflackern, das jedoch schnell wieder erlosch. »Aber diese Menschen wurden nicht ermordet.«
»Nicht direkt. Aber sie starben bei dem Versuch, Essen auf den Tisch zu bringen. Anders als die Banker, die niemals irgendein Risiko eingegangen sind.«
»Das ist keine Rechtfertigung, Björn!«
»Ich will nur sagen: Menschen sterben nun mal, Harpa. Und Gabríel Örn und Óskar starben für eine bessere Sache als mein Bruder.«
»Das sehe ich anders.«
Björns Geduld war am Ende. »Diese Menschen haben unser Land zerstört! Sie haben uns, unsere Kinder und Kindeskinder für die nächsten hundert Jahre in Schulden gestürzt. Und damit kommen sie auch noch davon! Kein Einziger von ihnen ist im Knast. Es
musste etwas unternommen werden.« Er versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er wollte Harpa nicht anschreien, sondern sie für sich gewinnen. »Und das haben wir getan.«
Björn holte tief Luft. Es gab noch mehr, das er ihr erzählen konnte und das sie überzeugen würde, doch jetzt war nicht die Zeit dafür. Noch nicht. Erst mussten sie mit Ingólf Arnarson fertig sein.
»Ich muss gleich mal telefonieren«, sagte er und griff zum Seil. »Ich werde dir Hände und Füße zusammenbinden. Tut mir leid, es dauert nicht lange.«
Er machte zwei komplizierte Knoten um Harpas Hand- und Fußgelenke, die er fest zuzog. Die würde sie nicht selbständig lösen können. Und selbst wenn: Wo sollte sie hinlaufen?
Björn schnappte sich sein Handy, Harpas Handy und das Messer, das er mitgebracht hatte, und ging nach draußen zu seinem Pick-up. Er fuhr zum obersten Punkt des Passes und an der anderen Seite wieder hinunter. Vor ihm erstreckte sich ein herrlicher, in Sonnenlicht getauchter Anblick: der gesamte Breiðafjörður mit seinen kleinen Inseln, der heilige Hügel von Helgafell und dahinter die Stadt Stykkishólmur zu seiner Rechten, in der Ferne die Berge der Westfjorde, im Vordergrund das Berserkjahraun, das sich zum Meer hinunterzog.
Auf dem Kamm über ihm stand die einsame steinerne Gestalt der Kerlingin, ihr Kopf befand sich nur wenige Meter
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