Magnus Jonson 02 - Wut
dem Tor im Vorgarten.«
»Das wäre aber ein Anfängerfehler für einen Auftragsmörder«, bemerkte Magnus.
»Ja«, gab Piper zu. »Aber vielleicht war es ja kein Auftragsmord. Es kann auch jemand gewesen sein, den Gunnarsson kannte. Schließlich hat er denjenigen hereingelassen.«
»In dem Fall könnte es ein Isländer gewesen sein«, bemerkte Magnus. »Gibt es eine greifbare Verbindung nach Russland? Óskar hatte doch vorher eine russische Freundin, nicht?« Magnus sah in seinen Aufzeichnungen nach. »Tanja Prochorowa.«
»Wir haben sie befragt. Sie behauptet, sie hätte vor zwei Monaten mit ihm Schluss gemacht. Sie ist Model, superschlank, Beine bis unter die Achseln, aber durchaus mit Grips. Hat einen Abschluss in Buchhaltung – sie sagt, sie hätte gemerkt, dass Gunnarsson pleite war, deswegen hätte sie ihn mehr oder weniger sitzenlassen.«
»Hat sie russische Freunde?«
»Allerdings. Sie geht bei den Milliardären hier in London ein und aus. Einige von denen sind eher anrüchig. Was ist bei Ihnen? Haben Sie in Reykjavík eine Verbindung nach Russland gefunden?«
»Noch nicht«, sagte Magnus. »Aber wir werden uns umhören. Hier wurde wegen Wertpapierbetrugs und Beeinflussung des Marktes gegen Óskar ermittelt.«
»Es gibt Gerüchte in der City, dass einige isländische Banken ihr Geld von der russischen Mafia bekamen«, warf Piper ein.
Magnus hob die Augenbrauen und sah seine Kollegen fragend an. Árni schaute ratlos drein. Vigdís schüttelte den Kopf. »Das werden wir auch überprüfen«, sagte er, sich seiner eigenen Unkenntnis bewusst. »Wir melden uns heute Abend mit dem neuesten Stand.«
»Super. Danke, Magnus.«
Magnus wandte sich an seine Kollegen. »Habt ihr alles verstanden?«, fragte er auf Isländisch.
Er wusste, dass Árni sehr gut Englisch sprach. Er hatte Kriminologie an einem kleinen College in Indiana studiert. Aber Vigdís behauptete, Englisch nicht zu beherrschen, obwohl Magnus ihr das nicht abnahm. Alle Isländer unter fünfunddreißig sprachen Englisch, und er sah keinen Grund, warum das bei Vigdís anders sein sollte, nur weil sie schwarz war.
Denn Vigdís Audarsdóttir war die einzige schwarze Beamtin bei der Polizei von Reykjavík. Sie litt darunter, von Isländern und Ausländern so behandelt zu werden, als sei sie keine Einheimische. Sie hatte Magnus erklärt, dass sie ihren Vater, der am amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Keflavík stationiert gewesen war, nie kennengelernt hatte, nicht kennenlernen wollte und sich selbst für so isländisch hielt wie Björk.
Magnus mochte sie. Vigdís war eine gewissenhafte Kollegin, und irgendwie war es für einen Amerikaner tröstlich, inmitten so viel blasser Haut mit einem schwarzen Gesicht zusammenzuarbeiten.
Árni nickte, Vigdís schwieg.
»Das deute ich als Ja«, sagte Magnus. »Gut. Legen wir fest, wer was übernimmt.«
Die Zentrale der Ódinsbanki befand sich auf Borgartún, einem Boulevard entlang der Bucht, der von teuren Gebäuden aus Glas und Marmor gesäumt wurde. Hier herrschte nicht das dichte Gewirr von Wolkenkratzern wie in den Finanzzentren amerikanischer Großstädte, die Gegend war gediegener und seelenloser.
Árni und Magnus fuhren in ein Parkhaus hinter einem der schicksten Bürogebäude. Sie gingen durch die Drehtür, über der in goldenen Lettern der Schriftzug »Neue Ódinsbanki« prangte. Durch die Lobby hallte das Rauschen von Wasserfällen, Brunnen und Bächlein, die das gläserne Atrium belebten.
Sie wurden von der Assistentin der Geschäftsführung empfangen, die sie im Aufzug bis in die oberste Etage geleitete. Sie führte die Beamten durch einen Handelsraum, in dem vierzig Personen Platz gefunden hätten. Dort herrschte eine unheimliche Stille: Die Monitore waren schwarz, die Stühle leer, nur ein gutes Dutzend Männer und Frauen saß in einer Reihe vor der hinteren Wand. Hinter diesen Überlebenden gab es einen wunderbaren Blick über die Bucht bis zum Berg Esja, der gerade unter einer grauen Wolke lag.
»Heute ist es ruhig«, sagte die Assistentin. Und fügte mit einem schiefen Lächeln hinzu: »So wie immer.«
Mehrmals bogen sie ab, bis sie schließlich zum Büro des Geschäftsführers gelangten. Der Mann war großgewachsen, um die sechzig Jahre und hatte ein kräftiges, kantiges Gesicht, dichtes graues Haar und tiefe Falten auf der Stirn. Er hieß Guðmund Rasmussen und war vor einem Jahr aus dem Ruhestand zurückgeholt worden, um die Bankgeschäfte zu übernehmen. Sein Büro war
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