Magnus Jonson 02 - Wut
plätscherte.
Sie hatte den Schuss nicht gehört. Oder möglicherweise doch. Vielleicht hatte er sie geweckt.
Freyja war erschüttert. Aber sie war eine starke Frau, eine Bauerstochter aus dem benachbarten Tal, und entschlossen, Matti auch nach seinem Tod nicht im Stich zu lassen, egal was er ihr
angetan hatte. Ein Schlag nach dem anderen traf die Familie. Die Bank drohte mit Zwangsvollstreckung, wenn die Hypothek nicht bedient würde. Und trotz allem musste der Hof bewirtschaftet werden.
Sindri hatte sich furchtbar gefühlt. Er mochte Freyja, eine blonde Frau von inzwischen Mitte vierzig mit einem kräftigen Kiefer und strahlenden Augen. Er hatte auch seinen kleinen Bruder Matti gemocht, der seine Pflicht getan und den Hof von den Eltern übernommen hatte. Matti war ein kräftiger, hart arbeitender, erdverbundener Bauer gewesen, in dem Sindri im Laufe der Jahre den Prototyp des wahren isländischen Helden erkannt hatte.
Aber vielleicht war ja Freyja die wahre Heldin.
Während Sindri zusah, wie sich die Schafe in das Gewirr von Pferchen unten im Tal drückten, musste er, wie so oft, an Bjartur denken. Dieser Mann ließ ihn nicht los. Sindri bewunderte ihn seit jeher, doch in den letzten zwölf Monaten war er fast besessen von dem hartnäckigen Kleinbauern.
Bjartur war kein Mensch aus Fleisch und Blut. Dennoch war er für Sindri echt, denn das, wofür er stand und was er versinnbildlichte, war real. Bjartur war eine literarische Figur, der Held des Romans Sein eigener Herr des Nobelpreisträgers Halldór Laxness, 1935 verfasst. Bjartur war ein Knecht, der genügend Geld spart, um sich ein eigenes Grundstück zu kaufen, einen kleinen Hof namens Sumarhús. Bjartur war stark, stolz und vor allem unabhängig. Im Laufe der Jahre, die das Buch umfasst, muss er furchtbares Elend ertragen, den Tod mehrerer Frauen und Kinder, die Zerstörung der Ernte und den daraus folgenden Mangel an Heu für seine Schafe, die herablassende Haltung seiner wohlhabenderen Nachbarn, die Flüche der Geister.
Doch Bjartur auf Sumarhús gibt nicht auf. Der Erste Weltkrieg kommt, der »Gesegnete Krieg«, der die Preise in die Höhe treibt und Islands Schafbauern Wohlstand bringt. Die alten Höfe mit den Lehmwänden weichen modernen Behausungen aus Beton.
Zuerst wehrt sich Bjartur dagegen, doch schließlich nimmt auch
er einen Kredit bei der örtlichen Genossenschaft auf. Sie wird geleitet von Ingólf Arnarson, dem Sohn eines Nachbarn, der nach dem ersten berühmten Siedler in Island benannt wurde. Mit dem Geld baut sich Bjartur ein Haus.
Auf den Boom folgt die Krise wie die Nacht auf den Tag. Das Geld wird knapp. Die Bauern geraten in Zahlungsrückstand. Ingólf Arnarson zieht nach Reykjavík, wo er bald Präsident der Nationalbank und später Premierminister wird. Bjarturs neues Betonhaus ist kalt, zugig, kaum bewohnbar. Am Ende kann auch er seine Raten nicht mehr zahlen. Das Haus und das Gelände von Sumarhús werden versteigert, und Bjartur stapft mit seiner kranken Tochter auf dem Arm über die Heide davon, um noch einmal von vorn zu beginnen.
Doch selbst am Ende, als er keine einzige króna mehr sein Eigen nennt, besitzt er immer noch seinen Stolz und seine Unabhängigkeit.
Leider hatte sich herausgestellt, dass Matti nicht Bjartur war. Matti war den Verlockungen der Banker erlegen, den Krediten, dem schnellen Geld. Sie hatten ihn zerstört, so wie den Rest der isländischen Gesellschaft.
»Sindri! Hilfst du uns beim Sortieren der Schafe?« Freyja kam auf ihn zumarschiert. »Falls du noch weißt, wie das geht.«
»Fällt mir schon wieder ein«, sagte Sindri und folgte ihr zum Pferch.
Nachdem die Schafe in die Pferche der Gemeinde getrieben worden waren, ging jede Bauernfamilie hinein und holte ihre Tiere heraus. Man konnte sie anhand der Ohrmarken eindeutig zuordnen, doch viele Bauern erkannten ihre Schafe auch so, hatten ihnen Namen gegeben. Schnell machte Frída ihre Hyrna ausfindig, die durch den Sommer in den Bergen viel größer und kräftiger geworden war. Sindri staunte über das gute Gedächtnis der Bauern; er hatte aus seiner Kindheit noch schwach in Erinnerung, dass sich die Schafe stark voneinander unterschieden, doch jetzt kamen sie ihm alle mehr oder weniger gleich vor. Abgesehen von den
wenigen schwarzen. Die hatte Sindri immer besonders gern gemocht.
»Komm mit!«, rief Freyja ihm zu. Sindri folgte ihr ins Getümmel. Anfangs bekam er mehrmals einen Stoß mit den Hörnern ab, doch dann fiel ihm allmählich wieder
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