Magnus Jonson 02 - Wut
Polizei helfen herauszufinden, wer der Täter war. Wir müssen wissen, ob es eine Verbindung nach Russland gibt, insbesondere eine über Island.«
»Keine Sorge, Sigurbjörg«, sagte Emilía. »Es gab keine russischen Kunden. Vielleicht ein oder zwei kleine, aber nichts Wichtiges. Óskar misstraute ihnen, so einfach war das. Es war eine interne Regel: kein Engagement bei Russen.«
»Könnte Tanja ihn mit fragwürdigen Geschäftsleuten bekannt gemacht haben, die nach Möglichkeiten suchten, ihr Geld zu parken?«
»Möglich. Aber nicht dass ich wüsste. Und ich würde es auch eher bezweifeln. Das sind genau die Leute, denen Óskar aus dem Weg gegangen wäre. Ich habe gesagt, er war völlig vernarrt in Tanja, aber richtig getraut hat er ihr nie.«
»Aha.« Magnus war nur halb überzeugt. »Und deine Familie? Gab es da Spannungen?«
»Ach, Óskar war die große Hoffnung, was unsere Eltern anging«, sagte Emilía ohne jede Eifersucht oder Verbitterung.
»Auch noch nach der kreppa ?«
»Auch da noch. Ich habe noch einen Bruder und eine Schwester. Mein Bruder ist ziemlich nervös, weil ihm aufgegangen ist, dass er nicht so reich ist, wie er dachte. Aber im Grunde genommen betet er Óskar an.« Sie schluckte und bemerkte ihren Fehler. »Betete ihn an, meine ich.«
Emilía schloss die Augen. Eine Träne lief ihr über die Wange. Die kühle Fassade bekam vor Magnus’ Augen Risse. Sie schniefte. »Tut mir leid«, sagte sie. »War das alles?«
Auf einmal hatte Magnus das Bild von Latasha vor Augen, einer Sechzehnjährigen aus einer Sozialsiedlung in Mattapan. Ihrem fünfzehnjährigen Bruder war auf der Straße direkt hinter ihrem Mietshaus ins Gesicht geschossen worden. Kurz nach der Tat hatte Magnus Latasha befragt. Sie war stolz, wollte den Cops um nichts in der Welt helfen. Sie war tapfer. Sie war cool. Ihre Mutter lag zugedröhnt mit Crack im Schlafzimmer, ihre Schwester brauchte eine neue Windel. Erst als Magnus das Apartment verlassen wollte, lief eine Träne über Latashas Wange, und sie bat Magnus, denjenigen zu finden, der ihren kleinen Bruder getötet hatte. Magnus brauchte dafür nicht lange: Es war der beste Freund ihres Bruders, vierzehn Jahre. Ein Streit um einen gestohlenen iPod.
»Danke, Emilía«, verabschiedete er sich. »Wir kommen vielleicht noch mal mit ein paar Fragen zurück.«
Sie nickte, und jetzt strömten die Tränen aus ihren Augen.
Am Fahrstuhl holte Sigurbjörg die beiden ein. Sie war einige Jahre älter als Magnus, um die vierzig, hatte kurzes rotes Haar
und ein rundes Gesicht. Auch wenn sie eine andere Haarfarbe hatte, erinnerte sie ihn ein wenig an seine Mutter, nur dass Sigurbjörg älter aussah. Seine Mutter war bei ihrem Tod erst fünfunddreißig gewesen.
»Tut mir leid, dass ich eben interveniert habe«, sagte Sigurbjörg auf Englisch. Sie war in Kanada aufgewachsen und wie Magnus erst als Erwachsene in die Heimat ihrer Eltern zurückgekehrt. »Die Ermittlung des Sonderstaatsanwalts gegen die Ódinsbanki ist von entscheidender Bedeutung für OBG.«
Magnus zuckte mit den Schultern. »Du hast nur deine Arbeit gemacht.« Das taten Anwälte nun einmal, sie behinderten die polizeilichen Ermittlungen. Aber so funktionierte das System.
»Hier ist meine Karte«, sagte Sigurbjörg. »Ruf mich doch an, ja? Komm mal zum Essen vorbei. Ich würde dir gern meinen Mann vorstellen.«
Magnus nahm die Visitenkarte entgegen und betrachtete sie. »Gut«, sagte er. »Mach ich.«
Er meinte es nicht ernst. An diesem Teil seines Lebens wollte er auf gar keinen Fall rühren. Sigurbjörg bemerkte seine Unaufrichtigkeit. Sie wirkte enttäuscht.
Mit dem nächsten Aufzug fuhr sie wieder nach oben.
7
»Sie kommen!«
Sindri schaute den Berg hoch. Über den Kamm schwappte eine weiße Woge, zuerst nur einige Dutzend, dann hundert, dann über tausend Schafe, die den Hang hinunter zu den Pferchen liefen. Zu beiden Seiten der Herde schossen die schwarzen Umrisse von Hunden hin und her, die die Tiere in geduckter Haltung trieben. Kurz darauf erschien der erste Reiter, dann ein zweiter und weitere.
Es war ein erhabener Anblick.
Die Wartenden unten, hauptsächlich die Familien der Bauern im Tal, zeigten nach oben und winkten. Die Treiber waren drei Tage unterwegs gewesen und hatten das Hochland nach den Schafen durchkämmt, die den Sommer über frei in den Mooren gelebt und sich am süßen Gras gütlich getan hatten. Es war das jährliche réttir , das Schaftreiben, eines der größten Ereignisse im
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