Magnus Jonson 02 - Wut
einmal durchmachen müssen, und sie war nicht überzeugt, ob sie es könnte.
Über Nordurströnd hörte sie ein Motorrad näher kommen. Vor dem Haus hielt es an.
Harpas Herz hüpfte. Sie lief nach draußen und warf sich in die Arme des Fahrers, noch bevor er seinen Helm abnehmen konnte.
»Oh, Björn, ich bin so froh, dass du da bist!« Sie begann zu schluchzen.
Er zog seinen Helm vom Kopf und strich ihr übers Haar. »Schon gut, Harpa. Es wird alles gut.«
Sie löste sich von ihm. »Nichts wird gut, Björn. Ich habe jemanden
umgebracht. Ich komme in die Hölle. Ich bin schon in der Hölle.«
»Es gibt keine Hölle«, sagte Björn. »Du fühlst dich schuldig, aber das brauchst du nicht. Natürlich ist es falsch, jemanden zu töten, aber das war ja nicht deine Absicht, oder? Es war ein Unfall. Bei Unfällen kommen nun mal Menschen ums Leben.«
»Es war kein Unfall«, sagte Harpa. »Ich habe ihn angegriffen.«
»Das alles ist nur passiert, weil Sindri und der Junge dich bedrängt haben. Sie haben dich dazu gebracht, ihn anzurufen und zu überreden, sich mit dir zu treffen. Unser beider Fehler war es, dabei mitzumachen. Sieh mich an, Harpa! Du bist kein schlechter Mensch.«
Aber Harpa schaute ihn nicht an. Sie drückte das Gesicht an Björns in Leder gekleidete Brust. Sie wollte ihm glauben. Sie wollte ihm so gern glauben.
10
November 1934
Als Hallgrím sich zur Scheune durchkämpfte, wo die Schafe für den Winter zusammengedrängt waren, blickte er über den Schnee. Er musste nach dem Heu sehen.
Es war zehn Uhr und wurde gerade hell. Der Schnee, der vor einigen Tagen gefallen war, leuchtete irisierend blau, nur oben auf den Bergen in der Ferne tauchte ihn die aufgehende Sonne in rötliches Licht. Hallgrím konnte noch die dunklen Umrisse der verdrehten Steinformationen von Berserkjahraun sehen. Durch die Wärme des Lavagesteins schmolz der Schnee dort immer am schnellsten.
Ein kalter Wind peitschte vom Fjord herein. Hallgrím sah eine kleine Gestalt, die durch den Schnee zur kleinen Kirche stapfte: Benni.
In den vergangenen Wochen hatte Hallgrím nicht viel von seinem Freund gesehen, doch er tat ihm leid. Das Verschwinden von Benedikts Vater hatte alle überrascht. Die Mutter hatte nicht den blassesten Schimmer, wohin ihr Mann gegangen sein mochte. Überall schwärmten Suchtrupps aus: über den Bjarnarhöfn-Berg für den Fall, dass der Vater Ausschau nach einem verlorenen Schaf gehalten hatte, entlang der Küste, falls er ins Meer gestürzt war, über Berserkjahraun, in den Orten Stykkishólmur und Grundarfjörður. Da sie ergebnislos blieb, wurde die Suche weiter ausgedehnt: über die Berge im Süden und den Kerlingin-Pass, am Meer entlang bis Ólafsvík; auch die Polizei unten in Borgarnes wurde informiert.
Nirgends war eine Spur von Benedikts Vater zu finden.
Hallgrím hatte sich den Suchtrupps angeschlossen und war immer dicht bei seinem Vater geblieben. Ihn erstaunte und beeindruckte die Entschlossenheit seines Vaters, zu helfen. Wie viele Stunden er auf den Mooren mit der Suche nach einer Leiche verbrachte, von der er wusste, dass sie auf dem Grund eines Sees in wenigen Kilometern Entfernung lag!
Die Atmosphäre auf Bjarnarhöfn war schrecklich. Sein Vater und seine Mutter sprachen kaum noch miteinander. Der Hass war zum Greifen. Hallgríms Bruder und seine Schwestern nahmen an, es liege an der Trauer und am Schock. Nur Hallgrím kannte den wahren Grund.
Der Junge hasste seine Mutter für das, was sie mit Bennis Vater getan hatte. Und obwohl er wusste, dass es falsch war, konnte er nicht anders, als seinen Vater zu bewundern, etwas unternommen zu haben.
Auf Hraun war es natürlich noch viel schlimmer. Bennis Mutter war halb wahnsinnig vor Sorge, aber sie war eine starke Frau, die den Hof nicht sich selbst überließ. Nachbarn sprangen ein und halfen aus.
Wohin war Benedikts Vater gegangen? Die Theorien wurden immer abenteuerlicher. Die wildesten Thesen lauteten, er sei mit einer Frau nach Amerika ausgewandert oder die Kerlingin hätte ihn geholt. Nüchternere Köpfe vermuteten, er sei irgendwie in den Breiðafjörður gefallen und hinaus aufs offene Meer getrieben worden.
Hallgrím lief über die schneebedeckte Hauswiese bis hinunter zur Kirche. Eigentlich war es nur eine Hütte mit schwarz gestrichenen Holzwänden und einem roten Metalldach. Sie hatte keinen Kirchturm, nur ein weißes Kreuz über dem Eingang. Umgeben wurde sie von einer flachen Mauer aus Stein und Gras und einem Friedhof,
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